Griechensehnsucht und Kulturkritik
Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840-1945
 
 
Der deutsche Griechenkult
 
Der deutsche Griechenkult fand keineswegs mit der
    Epoche der Klassik ein Ende, sondern lebte als äußerst
    wandlungsfähiges Konzept bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts
    fort. Die Autorin verfolgt über einhundert Jahre hinweg die
    Wirkungsgeschichte des Griechenideals von Johann Joachim
    Winckelmann bis in die Zeit des Nationalsozialismus, als die
    Begeisterung für seine Ideen parallel zum Griechenlandfeldzug
    in einer "Winckelmann-Renaissance" gipfelte.
    Auf der Grundlage von einer Fülle bislang unbeachteter
    Archivalien, publizierter Quellen und bildlicher Darstellungen
    wird ein höchst komplexes Ideengeflecht untersucht, dessen
    Anfänge zwar auf den Altertumsforscher des 18. Jahrhunderts
    zurückreichen, das aber in der Folgezeit insbesondere durch den
    Wechsel von vier politischen Systemen in immer neue
    funktionsgeschichtliche Zusammenhänge trat.
    Allen Anfechtungen zum Trotz drängte das Konzept des
    "Klassischen" in Gestalt einer sich auf das "Leben" berufenden
    Wertphilosophie den Positivismus des 19. Jahrhunderts zurück,
    brachte um 1900 einen "monumentalen" Klassiszismus in der Kunst
    hervor und initiierte den Aufschwung von Lebensreform,
    Jugendbewegung und Jünglingskult. In der Zusammenführung der
    Betrachtung von wissenschaftlicher, künstlerischer und
    literarischer Produktion und politischen Diskurs werden bisher
    ungesehene Verbindungen dargestellt. Sie zeigen, auf welch
    problematische Weise Griechensehnsucht und Kulturkritik das
    Denken, Fühlen und Handeln der Intellektuellen zwischen 1840
    und 1945 bestimmten.
    Akademie Verlag
 
Joachim Winckelmann als Gründerheros der Klassischen Archäologie
 
 

Abb.10: Satyr und Hermaphrodit, römische Kopie nach einem Original des 2. Jh.s v. Chr., Marmor, Höhe 91 cm, Staatliche Kunstsammlungen, ibid., S.34 
 
"Das Prestige, das Johann Joachim Winckelmann (1717-1768)
    als Gründerheros der Klassischen Archäologie genoß, trug
    wesentlich weiter als die Gültigkeit seiner positiven
    Erkenntnisse. Je mehr diese obsolet wurden, desto mehr wurde er
    als Person gefeiert und idealisiert; für Winckelmanns
    aufklärerische Botschaft und sein libertines Pathos hatten
    seine Rezipienten allerdings nur wenig Sinn.
    Das spezifische Interesse verstärkte sich in den 1920er bis
    40er Jahren und wurde bereits damals als
    "Winckemann-Renaissance" charakterisiert. Der Höhepunkt dieser
    "Renaissance" fiel signifikanterweise in das Jahr des deutschen
    Griechenlandfeldzuges (1941). Auf die besondere Rolle
    Winckelmanns während des "dritten Reiches" weisen zum einen die
    Gründung der Winckelmann-Gesellschaft Stendal im Dezember 1940
    und der rasante Anstieg ihrer Mitgliederzahl auf 1126 im Januar
    1945 hin, zum anderen die 1941 erfolgte Umbenennung des
    Archäologischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität
    Berlin in "Winckelmann-Institut" sowie die Edition einer
    Werkausgabe, die seit 1937 durch die Reichsjugendführung, die
    Preußische Akademie der Wissenschaften und das Archäologische
    Institut des Deutschen Reiches gefördert wurde. Doch bereits
    seit den 1840er Jahren hatte die Rezeption Winckelmanns eine
    Richtung genommen, die seiner Popularisierung und späteren
    ideologischen Funktionalisierung die Wege geebnet hatte. Schon
    damals tauchten "ästhetische Vorstellungen (auf), die ihre
    normative Herkunft im Neuhumanismus, im Idealismus und in der
    Klassik haben und deren vulgäridealistisches Vokabular das Ende
    der Kunstperiode um mehr als ein Jahrhundert überlebt(e)".
    (op. cit., S.XI)
 

Abb.9: Knidische Aphrodite des Praxiteles, um 350 v. Chr. (Rekonstruktion); ibid., S. 34 
 
"Mit dem zunehmenden
    Prestigeverlust des Griechenideals nach dem ersten Drittel des
    19. Jahrhunderts versuchte der idealistische Strang der
    deutschen Altertumswissenschaft, die Normativität des
    Klassizismus auch über dessen Ende hinaus aufrechtzuerhalten.
    Auf die Modernisierungstendenzen, welche das Privileg der
    Disziplin im deutschen Bildungskanon gefährden, reagierte sie
    mit einer Dogmatisierung ihres Wertekanons, der sich
    schließlich zu einer klassizistischen Ideologie verfestigte.
    Diesen Prozeß kann man nach Wolbert mit dem Begriff
    "Defensivideologie" bezeichnen, weil damit charakterisiert
    wird, wie die Gelehrten aufgrund ihrer defensiven Position zu
    Argumentationen oder Deutungen gelangten, die selbst
    ideologiehaltig waren oder bestehende Ideologien legitimierten
    und unterstützten. Bei fortschreitender Vernachlässigung 
    der archäologischen Leistungen Winckelmanns fanden nun
    überwiegend die für die Gegenwart relevanten Aspekte seines
    Werkes und seiner Person Beachtung. Dazu zählten Winckelmanns
    angebliche Bevorzugung des "Erlebens" von Kunst im Gegensatz zu
    ihrer analytischen Diskursivierung, sein idealisierendes Kunst-
    und "Menschenbild" und seine Rolle als platonischer "Erzieher"
    sowie die Entschiedenheit seiner Urteile und seine vehemente
    Polemik gegen die barocke Kunst und Gelehrsamkeit." (op.
    cit., ibid., S.
    XII)
 

Abb.5: Skulptur im Stil des Neubarock: Gustav Eberlein, Bacchantengruppe, 1899, Gips, dunkel getönt, Städisches Museum Hann-Muenden, ibid., S.30 
Die proklamierte Vorrangstellung der griechischen Kunst
 
"Die proklamierte Vorrangstellung der griechischen
    Kunst und sein Wille zur Neugestaltung spielten bei der
    Konstruktion der "Sonderrolle" der deutschen Kultur eine
    wesentliche Rolle. Nationalistische Interpretationen stellen
    besonders die "Deutschheit" der Person Winckelmanns heraus.
    Hinter diesen Zuweisungen traten jene Leistungen des
    Altertumsforschers zurück, die eine tatsächliche Zäsur in der
    wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Antike
    darstellen: die kulturgeschichtliche Perspektive, die
    Konfrontation der Denkmäler mit den antiken Textquellen, die
    Erkenntnis und Charakterisierung der griechischen Stilstufen,
    die Aufwertung der Wahrnehmung, die Ausdifferenzierung der
    Sprache als analytisches Instrumentarium und schließlich die
    politische Dimension seines Griechenideals im Umfeld des
    höfischen Absolutismus: Sein Verständnis, daß die Betrachtung
    der antiken Kunstwerke der persönlichen Vervollkommnung diene,
    wurde ein entscheidendes Motiv der bürgerlichen Aufklärung."
    (op. cit., ibid., S.XII)
 
![Abb. 27: Kopf der Athena, Marmor, Bologna, Museo Civico, aus: Bulle, Der Schöne Mensch, 1898; ibid., S.119; In seinem Aufsatz "Die griechische Schönheit" (1914) beschäftigte sich auch Heinrich Bulle mit der Ausdruckslosigkeit in den Gesichtern der griechischen Bildwerke (Abb. 27) In ihr sieht er "eine der Vornehmheiten der griechichen Kunst", welche "immer die Zuständlichkeit, das Bleibende, das Ewiggültige" suche und darum alles, was nur dem "Augenblick" gehöre, "hasse". Die Ausdruckslosigkeit der Skulpturen vergleicht Bulle bezeichnenderweise mit den Masken der Theaterschauspieler. Jenseits ihrer Funktion als optisches Hilfsmittel seien sie ein "eminentes Stilmittel" des griechischen Theaters gewesen und von dieser "Gesinnung" habe auch die bildende Kunst profitiert: "[...] was wären ein paar verzogene Gesichtsmuskeln gegenüber der tiefen stillen Sprache von Haltung und Bewegung in Händen und Kopf, in Gliedern und Falten ? Wo das Ganze spricht, mag der flüchtige Anzeiger des Inneren, die Miene, sich bescheiden zurückhalten, man bedarf dieses Nebensächlichen und Kleinen nicht [...]." (op. cit., ibid., S. 120)](/go/museoon/_ws/mediabase/_ts_1317962773000/generated/modules/sites/website/pages/home/db/archaeology/_page_id_821/_page_id_516/main/_page_id_o_advanced_708/en/pic01_490x550.jpg)
Abb. 27: Kopf der Athena, Marmor, Bologna, Museo Civico, aus: Bulle, Der Schöne Mensch, 1898; ibid., S.119; In seinem Aufsatz "Die griechische Schönheit" (1914) beschäftigte sich auch Heinrich Bulle mit der Ausdruckslosigkeit in den Gesichtern der griechischen Bildwerke (Abb. 27) In ihr sieht er "eine der Vornehmheiten der griechichen Kunst", welche "immer die Zuständlichkeit, das Bleibende, das Ewiggültige" suche und darum alles, was nur dem "Augenblick" gehöre, "hasse". Die Ausdruckslosigkeit der Skulpturen vergleicht Bulle bezeichnenderweise mit den Masken der Theaterschauspieler. Jenseits ihrer Funktion als optisches Hilfsmittel seien sie ein "eminentes Stilmittel" des griechischen Theaters gewesen und von dieser "Gesinnung" habe auch die bildende Kunst profitiert: "[...] was wären ein paar verzogene Gesichtsmuskeln gegenüber der tiefen stillen Sprache von Haltung und Bewegung in Händen und Kopf, in Gliedern und Falten ? Wo das Ganze spricht, mag der flüchtige Anzeiger des Inneren, die Miene, sich bescheiden zurückhalten, man bedarf dieses Nebensächlichen und Kleinen nicht [...]." (op. cit., ibid., S. 120) 
Die Rezeptionsgeschichte - ein komplexes historisches Gefüge
 
"Wie alle
    Rezeptionsgeschichten ist auch diejenige Winckelmanns Teil
    eines komplexen historischen Gefüges: Den Prozeß seiner
    "Trivialisierung", "Typisierung" und schließlich
    Ideologisierung bestimmten politische, gesellschaftliche und
    kulturelle Zusammenhänge. Dies um so mehr, als sein
    griechisches Ideal von jeher eine "maßgeblich wertsetzende
    Instanz" war und ebenso konstitutiv wie programmatisch für die
    deutsche Altertumswissenschaft und neuhumanistische
    Bildungskultur seit dem mittleren 18. Jahrhundert war. Daher
    sind hier nicht primär die wissenschaftsimmanenten
    Transformationen des Griechenideals von Interesse, sondern der
    Prozeß der fortschreitenden Verschmelzung fachlicher
    Argumentationen mit den äußeren Rahmenbedingungen des
    wissenschftlichen Gesprächsfeldes: die zeitgenössisches Kunst,
    der Bildungsdiskurs und die Kulturkritik, die Reformbewegungen
    und gesellschaftspolitische Konstellationen." (op. cit.,
    ibid., S.XII)
 

Abb. 15: Athena aus dem Tempel von Aegina, aus: Bulle, der Schöne Mensch im Altertum, 1898; ibid., S.68;  "Mit seinem großen Abbildungskompendium "Meisterwerke der griechischen Plastik" (1893) und den reich illustrierten "Denkmäler(n) griechischer und römischer Kunst" (1898) sowie dem im gleichen Jahr von seinem Schüler Heinrich Bulle herausgegebenen Bildband "Der schöne Mensch im Altertum" gab die Münchner Archäologie in der Zeit des anhaltenden Streits um die Gymnasialreform eine schlagende Antwort: Mit der Visualisierung des Materials demonstriere sie ihr Bestreben, die klassische Kunst einem breiten Publikum in einer Zeit zu vermitteln, als das Interesse am klassischen Bildungskanon im Verschwinden begriffen war. Die Abbildungskompendien erfüllten diese Aufgabe auf eine optisch einprägsame und ästhetisch angenehme Weise." (op.cit., ibid., S. 67-68) 
 
"Obwohl der Höhepunkt der
    "Winckelmann-Renaissance" in das "Dritte Reich" fiel,
    fokussiert die vorliegende Untersuchung primär die
    Entstehungsgeschichte der Deutungsmuster seit der Mitte des 19.
    Jahrhunderts. Die Rezeption soll nicht aus der Perspektive
    ihres Höhe- und Endpunktes untersucht werden, denn ihr Beginn
    und ihr spezifischer Verlauf haben ihre eigene Logik. Der hier
    behandelte Zeitraum 1840-1945, der durch vier verschiedene
    politische Systeme bestimmt war (Deutscher Bund, Kaiserreich,
    Weimarer Republik, NS-Diktatur), ermöglicht es,
    Argumentationslinien über einen längeren historischen Zeitraum
    zu verfolgen und dabei zu untersuchen, welche Deutungsmuster
    des Griechenideals nach den jeweiligen politischen Umbrüchen in
    den Vordergrund bzw. Hintergrund traten und an welche
    Traditionslinien man erneut anzuschließen versuchte. Mit der
    Betrachtung dieser selektiven Verfahren der Rezepton soll das
    Abhängigkeitsverhältnis des Antikediskurses von den
    gesellschaftspolitischen und kulturellen Rahmenbedingungen
    konturiert werden." (op. cit.,
    S.XII-XIII)
 
![Abb. 26: Herakles aus dem Ostgiebel des Aphaiatempels von Aegina, um 500 v. Chr., Marmor, aus: Curtius, Die klassische Kunst Griechenlands, 1938; Adolf Furtwängler pries an den 1901 von ihm in Ägina ausgegrabenen Giebelskulpturen (Abb. 26) deren "eminente Spannkraft und Energie" und fügte exklamatorisch hinzu: "Diese Bewegungen sollen nicht ausdrucksvoll sein ! [...] Diese Menschen kennen kein Sichnachgeben, kein Sichgehenlassen; nur der Tod selbst kann ihnen die Spannung rauben - ein Geschlecht, das nimmer müde wird noch matt, immer froh und frisch, immer arbeitsfreudig, immer bereit, den sehnigen, in Muskelübung gestählten Körper zur Tat voll einzusetzen." (op. cit., ibid., S.119)](/go/museoon/_ws/mediabase/_ts_1317962773000/generated/modules/sites/website/pages/home/db/archaeology/_page_id_821/_page_id_516/main/_page_id_o_advanced_248/en/pic01_490x550.jpg)
Abb. 26: Herakles aus dem Ostgiebel des Aphaiatempels von Aegina, um 500 v. Chr., Marmor, aus: Curtius, Die klassische Kunst Griechenlands, 1938; Adolf Furtwängler pries an den 1901 von ihm in Ägina ausgegrabenen Giebelskulpturen (Abb. 26) deren "eminente Spannkraft und Energie" und fügte exklamatorisch hinzu: "Diese Bewegungen sollen nicht ausdrucksvoll sein ! [...] Diese Menschen kennen kein Sichnachgeben, kein Sichgehenlassen; nur der Tod selbst kann ihnen die Spannung rauben - ein Geschlecht, das nimmer müde wird noch matt, immer froh und frisch, immer arbeitsfreudig, immer bereit, den sehnigen, in Muskelübung gestählten Körper zur Tat voll einzusetzen." (op. cit., ibid., S.119) 
Das Rezeptionsspektrum
 
"Die wichtigsten Protagonisten der Rezeption
    waren naturgemäß jene Klassischen Archäologen, die sich dem
    Klassizismus und dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet
    fühlten. Die Klassische Archälogie umfaßt bis heute die
    Geschichte und den Einfluß der griechischen und römischen Kunst
    und ist in diesem Sinne "Winckelmannsche Archäologie". In der
    Kunstgeschichte spielten die Ideen Winckelmanns dagegen eine
    geringere Rolle: Sie waren zwar auch konstitutiv für die
    Entstehung der Disziplin, aber sie waren nicht in
    vergleichbarem Maße relevant für das Selbstverständnis des
    Faches. Der Klassizismus hatte hier nach 1830 keine
    Deutungshoheit mehr. Schon in Franz Kuglers Handbuch der
    Kunstgeschichte (1842) sind die Grundsätze der klassischen
    Ästhetik einer relativistischen Betrachtung der Kunst
    gewichen.  Es waren in erster Linie Schriften von
    Klassischen Archäologen, die im Zuge ihrer
    Selbsterhaltungsstrategien Klischees, Formen der
    Popularisierung und Möglichkeiten nationaler Vereinnahmung des
    Winkelmannschen Antikenideals prägten, wie sie dann gegen Ende
    des 19. Jahrhunderts auch im außerarchäologischen und
    außerakademischen Diskurs vorzufinden sind. Von den
    "klassizistischen" Vertretern der Altertumswissenschaften wurde
    Winckelmanns Name seit der Mitte des19. Jahrhunderts besonders
    in den Klagen über das Ende des Klassizismus aufgerufen, der
    das Fach einst so eng mit dem zeitgenössischen Bildungsideal
    und der Kunst und Literatur verband. Auch gegen die
    Bestrebungen um eine Bildungsreform und gegen die
    naturalistische Kunst beharrte dieser Strang des Faches auf der
    unverminderten Gültigkeit des normativen Griechenbildes. Die
    zentrale Position der "klassischen" Kunst sah man hier auch
    durch den Relativismus der historischen Forschung gefährdet,
    die das Interesse auf vor- und nachklassische Kulturen und alle
    überkommenen Artefakte einer Kultur gelenkt hatte. Im Rahmen
    ihrer Verteidigungsstrategien wurden von den "Klassizisten"
    Vorstellungen über Kunst, Jugenderziehung, Moral und
    Gesellschaft entwickelt, mit denen sie in zunehmendem
    Widerspruch zur sozialen und politischen Wirklichkeit ihrer
    Gegenwart traten." (op.cit., ibid.,
    S.XV)
 

Abb. 54: Relief mit Sportszenen von der Statue einer Kuros-Basis, um 510 v. Chr., Athen, Nationalmuseum, aus: Unsterbliches Hellas, 1937; ibid., S.166 
Die deutsche Klassische Archäologie
 
"Es muß bereits an dieser Stelle betont
    werden, daß sich die vorliegende Geschichte der
    Winckelmann-Rezeption ausschließlich mit dem idealistischen
    Strang der deutschen Klassischen Archäologie beschäftigt, in
    deren Wertehierarchie die Kunst der griechischen "Klassik" an
    erster Stelle stand. Damit ist sie zwar auf das Engste mit
    der Ideengeschichte des Faches verbunden, nicht aber mit dessen
    Entwicklung als Ganzem. Die wichtigsten Vertreter der
    idealistischen Position, überschaubar an Zahl, sind allerdings
    zu den bedeutendsten Namen dieser hundertjährigen Zeitspanne zu
    rechnen: Eduard Gerhard, für den 1843/44 in Berlin der erste
    Lehrstuhl für Klassische Archäologie geschaffen wurde, gefolgt
    von Otto Jahn und Johannes Overbeck, Ernst Curtius und der
    "Münchner Schule" um Heinrich Brunn, Adolf Furtwängler und
    Heinrich Bulle sowie jene Archäologengeneration, die dem
    "Dritten Humanismus" nahestand: Ludwig Curtius, Gerhard
    Rodenwaldt, Ernst Buschor, Bernhard Schweitzer und Ernst
    Langlotz.  Da diese Richtung in der genannten Periode in
    Deutschland die vorherrschende war, ist das von ihnen Gesagte
    in weiten Teilen repräsentativ, deckt aber nicht das gesamte
    Spektrum ab. Unumgängliche Verallgemeinerungen wie "die
    Archäologen" sind daher nur auf diesen einen Teil des Faches zu
    beziehen." (op. cit., ibid., S.
    XV-XVI)
 

Abb. 53: Sogen. Wettläuferin, römische Kopie eines um 460 v. Chr. geschaffenen griechischen Originals, Rom, Vatikanische Museen, aus. Bulle, Der schöne Mensch, 1898; ibid., S. 166 
Die historisch-positivistische Altertumswissenschaft
 
"Bei den Vertretern der historisch-positivistischen
    Altertumswissenschaft hingegen, insbesondere bei den
    Grabungsarchäologen, galt im Zuge der wissenschaftlichen
    Ausdifferenzierung und Spezialisierung nicht nur Winckelmanns
    Kenntnisstand als überholt, sondern zunehmend auch die zentrale
    Stellung seines Griechenideals. Die wichtigsten
    Ausgrabungskampagnen des Deutschen Reiches galten nun den
    altorientalischen Kulturen. Die Perspektive der Arbeit bedingt
    es, daß die herausragenden Leistungen der Archäologie im
    Bereich der Ausgrabungstätigkeit, die in diese Zeitspanne
    fallen, nicht Gegenstand der Betrachtung sein konnten."
    (op. cit., ibid., S. XVI)
 
 
"Nochmals: hier geht es allein um den Strang
    der Kunstarchäologie, die sich auf Winckelmann als begründende
    Leitinstanz berief. Dennoch sahen sich auch die
    Grabungsarchäologen - und einige von den oben genannten Namen
    zählen hierzu - teilweise noch als "Erfüller" von Winckelmanns
    "Erbe": "Erst mit Kaiser und Reich haben wir, Winckelmanns
    Traum erfüllend, in Olympia  eingreifen (...) können,
    formulierte 1902 Alexander Conze, damals Generalsekretär des
    DAI, obwohl er doch selbst mit seiner Arbeit das Ziel
    verfolgte, die Altertumswissenschaft von den letzten Spuren
    romantischer Schwärmerei zu befreien. Auch in den Reden Theodor
    Wiegands, "der sich als Archäologe und später als
    Museumspolitiker für einen "modernisierten" Zugang zu den
    Idealen der Antike engagierte" und zwischen der alten
    Bildungselite und der neuen technischen und industriellen Elite
    zu vermitteln suchte, schwang der idealistische Grundton mit.
    So hat Wiegand zwar durch seine wissenschaftliche Arbeit dazu
    beigetragen, daß sein Fach auf neue Grundlagen gestellt wurde,
    aber dennoch in ideeller und gesellschaftspolitischer Hinsicht
    danach gestrebt, "dass die alte Ordnung (...) erhalten und
    bestimmend bleiben sollte (...)" (op.cit., ibid.,
    S.XVI)
 
 
 
    
    Fortsetzung Ērān ud Anērān ...
     
    © Ulrike-Christiane Lintz, 05.07.2007