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Geschichtsbilder

Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag

"Wie ist es eigentlich gewesen" -

noch immer streiten die Historiker und die Erkenntnistheoretiker darum, in welchem Ausmaß dies überhaupt zu erkennen und darzustellen möglich ist. Doch längst hat sich die Fragestellung verlagert. Wie es denn wahrgenommen wurde, heißt es heute immer öfter.

Wer sich von der Frage der Erkennbarkeit der Geschichte keine Klärung mehr erhofft, kann sich mit der Erforschung der Geschichtsbilder eine zweite Plattform schaffen. Ob sie sicherer ist als die erste, kann heute noch nicht abschließend gesagt werden. Ihre Notwendigkeit bestreitet jedoch niemand mehr.

Michael Salewski hat ein imposantes Oeuvre zur faktenorientierten Zeitgeschichte, vornehmlich der Weimarer Republik und des zweiten Weltkrieges, geschaffen. Im vergangenen Jahrzehnt trat er mit den großen, ja einzigartigen Synthesen einer Deutschen Geschichte und einer Geschichte Europas hervor. Doch bereits in den 1980er Jahren begann er, darüber hinaus ein weiteres, großes Feld zu erschließen. Arbeiten zur Erforschung des historischen Selbstverständnisses, zu historischen Symbolen, zu dem damals völlig neuen Feld von "Science Fiction und Geschichte" entstanden. Er verfasste diese Studien teilweise im Rahmen der "Gesellschaft für Geistesgeschichte", teilweise außerhalb, auf Grenzgebieten von Literatur, Kunst, Publizistik und politischer Geschichte. (...)"

(Vorwort, ebd., S. 15)

Aus dem Vorwort

Wer mit Michael Salewski arbeitete, erlebte ein seltenes Verständnis für das Exzentrische und die Bereitschaft, in der Universität den Freiraum zu verteidigen, der nötig ist, damit das Unkonventionelle und nicht Stromlinienförmige wachsen kann. Schüler, Freunde und Kollegen der verschiedensten Couleur haben diese Liberalität erlebt und wollen sie mit dieser Festschrift ehren.

Mit Beiträgen von

Hans Eberhard Mayer, Robert Bohn, Helmut Grieser, Wolf D. Gruner, Erich Hoffmann, Klaus Hildebrand, Klaus Schwabe, Josef Schröder, Heiner Timmermann, Carl August Lückerath, Thomas Riis, Gerhard Fouquet, Olaf Mörke, Josef Wiesehöfer, Thomas Stamm-Kuhlmann, Lars U. Scholl, Jens Hohensee, Frank-Lothar Kroll, Heinrich Walle, Ernst Opgenoorth, Sönke Neitzel, William F. Sheldon, Julius H. Schoeps, Birgit Aschmann, Hans Hattenhauer, Bernd Sösemann, Imanuel Geiss, Peter Krüger, Bernd Kasten, Guntram Schulze-Wegener, Michael Epkenhans, Otmar Franz, Joachim H. Knoll, Bea Lundt, Heinrich Dormeier, Jürgen Elvert, Christian Ostersehlte, Götz Bergander, Thomas E. Fischer, Rudolf Jaworski, Ilona Stölken-Fitschen

Elvert, Jürgen (Hrsg.) / Aschmann, Birgit (Hrsg.) / Hohensee, Jens (Hrsg.)
Geschichtsbilder
Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag.

1. Auflage 2003.
Gebunden.
Historische Mitteilungen - Beihefte Band 47
Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-08252-5

Ausgewählter Beitrag

Adios Columbos: Die Entdeckung des Kolumbus in Amerika

WILLIAM F. SHELDON

 

Am 12. Oktober 1492 gelangte Christoph Kolumbus zu einer Insel, die sich genau dort be­fand, wo er sie vermutet hatte. Er erzählte den Eingeborenen, die ihn begrüßten, dass sie vor der Küste Japans, nämlich in Indien, wohnten und deshalb "Indianer" seien. Diese "Entde­ckung" feiern die USA am Kolumbus-Tag, oder, wie man nun "politisch korrekt" sagt, sie "gedenken" dieser "Begegnung" mit den "Urbewohnern" des amerikanischen Kontinents. Der Kolumbus- Tag wird seit 1892 in allen Staaten der USA als Feiertag begangen. Er ist einer der beiden Staatsfeiertage in den Vereinigten Staaten zu Ehren einer Einzelperson. Der andere vergleichbare Feiertag wurde 1986 Martin Luther King gewidmet. Seit 1796 gedenkt man des Geburtstages von George Washington, aber seit einigen Jahren wird sein Geburtstag zusam­men mit dem von Abraham Lincoln als "President's Day" am dritten Montag in Februar be­gangen - beide wurden im Februar geboren. Kann man daraus folgern, dass Christoph Ko­lumbus den Amerikanern wichtiger als George Washington und Abraham Lincoln geworden ist ?

"Look what I discovered!"

Karikatur von Bob Engelhart, in: Hartford Courant, reproduziert in international Herald Tribune, 28. Juli 1992, S.8; ebd., Abb. S. 326.
Karikatur von Bob Engelhart, in: Hartford Courant, reproduziert in international Herald Tribune, 28. Juli 1992, S.8; ebd., Abb. S. 326.

Jahrhundertschritte ...

Ich möchte eine Reise von 1492 bis in die Gegenwart machen, indem ich Jahrhundert­schritte gehe; ich unternehme also nicht eine Reise durch den Raum wie Kolumbus, sondern eine durch die Zeit. Dabei will ich die Entdeckung des Kolumbus in Amerika untersuchen, genauer gesagt in dem Teil des Kontinents, auf dem später die USA entstanden.

Im Jahre 1492 wurde eine Gruppe von Menschen, die Kolumbus "Indianer" nannte, in den ihnen vertrauten Gewässern von einem Unbekannten überrascht. Diese "Indianer" waren die ersten Amerikaner, die Kolumbus entdeckten. Ebenso wenig wie Kolumbus wusste, dass er Amerika erreicht hatte, ebenso wenig wussten oder interessierten sich die Indianer dafür, dass dieser weiße Mann, den sie für einen Gott hielten, Christoph Kolumbus war. Die Konsequen­zen, die die Reise des Kolumbus für die Indianer haben sollten, waren nicht abzusehen und so wurde er schnell in Amerika vergessen. Die Spanier beuteten zwar die Entdeckung Amerikas aus, aber auch sie nahmen zunächst von dem Entdecker keine Notiz. Der Kontinent wurde nicht nach Kolumbus benannt, sondern nach dem italienischen Navigator Amerigo Vespucci, der als Erster feststellte, dass diese Landmasse ein Kontinent war.

Ein Jahrhundert später, im Jahre 1592, hatte man Kolumbus in Spanien entdeckt. Aber kaum jemand auf dem amerikanischen Kontinent erinnerte sich an diesen Mann und naturge­mäß veranstaltete niemand eine Jahrhundertfeier. Im Selbstverständnis der in Neuengland le­benden Menschen beginnt die Geschichte ihres Landes mit den Pilgervätern, die 1620 am Plymouth Rock im späteren Staat Massachusetts landeten.

In Salem, einer kleinen Stadt in Massachusetts, fing an einem Wintertag im Januar 1692, al­so 200 Jahre nach der Landung des Kolumbus in Guanahani, die kleine Betty Parris, die neun­jährige Tochter eines puritanischen Pastors, zu schreien an. Sie schrie und schrie, und niemand in der kleinen englischen Siedlung wusste warum. Sie warf sich auf den Boden, hatte Schaum vor dem Mund, ihre Muskeln verkrampften sich, ihre Worte waren unverständlich. Als Anwe­sende das Vaterunser sprachen, versuchte die kleine heimgesuchte Betty Parris, sich in das Kaminfeuer zu werfen. Ihr Vater war ratlos, und er rief einen Arzt zur Hilfe. Dessen Diagnose war eindeutig: Hexerei. Nach einigen Tagen zeigte Bettys Cousine Abigail Williams ähnliche Symptome, und in den nächsten Monaten traten sie noch bei einigen anderen Menschen auf.

 

Die Moral dieser Geschichte

ist, dass die Bewohner der Gebiete, die später einmal Kernstück der Vereinigten Staaten werden sollten, sich im Jahre 1692 mit besessenen Kindern, Hexen­prozessen und der Frage nach Erlösung der Seele befassten. Sie hatten nicht die geringste Ah­nung von, Interesse an oder Verlangen nach Christoph Kolumbus. Für sie war die Mayflower das wichtige Schiff, sie kannten keine Nina, Pinta oder Santa Maria. Die Heilige Schrift gab ihnen Anleitung und Rat, um ihr Leben in dieser britischen Kolonie zu bestehen, eine histori­sche Person als Vorbild gab es nicht.

Erst um das Jahr 1792, also dreihundert Jahre nachdem Kolumbus seinen Fuß in die Neue Welt gesetzt hatte, entdeckten die Amerikaner, die nun seit 1787 in den "Vereinigten Staaten von Amerika" lebten, diesen Mann. Voraussetzung für diese Entdeckung war eine Reihe von Ereignissen, die sich während der amerikanischen Revolution von 1776 bis 1783 abgespielt hatten. Diese Ereignisse führten zu der Unabhängigkeit von Großbritannien und der Grün­dung eines neuen Staates mit einer revolutionären Staatsform, nämlich einer föderalistischen Republik. Die Revolution krönte ein Jahrhundert der Expansion: Die Bevölkerung war in die­sem Zeitraum von 194.000 Einwohnern auf mehr als drei Millionen gewachsen, (1) das besiedel­te Land hatte sich um das Vierfache vergrößert. Gewerbe und Handel blühten wie nie zuvor. Hexen und Hexenjagd starben in einer zunehmend säkularen Gesellschaft aus. Ein starker, selbstbewusster Mittelstand war entstanden und gedieh; eine Intellektuellenschicht fand Zeit für Reflexion und für Politik, für Geschichtsschreibung und für die Schaffung von Mythen und Symbolen.

Die Unabhängigkeit von Großbritannien und die Gründung eines Staates mit einer neuen Staatsform bedeuteten, metaphorisch gesprochen, ein Segeln in unbekannten Gewässern, das an die Unternehmung des Kolumbus erinnert. Der britischen Kolonie hatte eine eigene Ver­gangenheit und Geschichte gefehlt. Die amerikanischen Kolonisten konnten sich nicht wie andere Nationen auf eine Vergangenheit mit Mythen, Helden und Heroen berufen, sondern mussten sich mit britischen Namen und mit britischer Geschichte begnügen. Die Akkorde in ihrem historischen Gedächtnis, die nach Abraham Lincoln aus vielen Leuten eine Nation machen, waren: die Magna Charta, Sir Francis Drake, Königin Elisabeth, die Glorreiche Revo­lution von 1688, John Locke, die Bill of Rights, Marlborough. Die Kolonisten teilten Erinne­rungen und Ruhm mit Großbritannien und hatten kaum eigene. Die wohlhabenden und gebil­deten Kolonisten wollten auf diese Traditionen nicht verzichten.

Aber der Bruch mit Großbritannien und der kolonialen Vergangenheit kam, aus den briti­schen Kolonisten wurden Revolutionäre, die gegen den Kolonialstatus aufbegehrten. Die A­merikaner gewannen den Unabhängigkeitskrieg, trennten sich vom Mutterland und benötigten dringend eine eigene Identität, um eine Nation zu werden. Aber woher sollte diese Identität kommen? Man griff u.a. auf die Unabhängigkeitserklärung zurück, denn sie beruhte auf den Werten, die die Revolutionäre zu ihrem drastischen Schritt geführt hatten, beziehungsweise mit denen sie den Schritt rechtfertigten. Die Unabhängigkeitserklärung wurde bald Grundlage des neuen Selbstverständnisses. George Washington wurde mythologisch überhöht und diente bereits zu seinen Lebzeiten als Identifikationsfigur.

Die Entdeckung Christoph Kolumbus'

Bei ihrer Suche nach einer neuen Identität entdeckten Intellektuelle und Patrioten der Zeit nach der Revolution Christoph Kolumbus. Diese Entdeckung spiegelte sich vor allem in Na­mengebungen und in Gedichten, die in dieser Zeit geschrieben wurden. 1784 wurde der Name von Kings College, der noch in der kolonialen Tradition stand, durch "Columbia College" er­setzt. Joel Barlow, der sich des Bedürfnisses nach einer neuen amerikanischen Identität sehr wohl bewusst war, veröffentlichte 1787 ein episches Gedicht mit dem Titel "Die Vision des Kolumbus". Darin wird ein klagender Kolumbus von einem Engel in die neu gegründeten Vereinigten Staaten geführt, und er bekommt die wunderbaren Früchte seiner Entdeckung zu sehen. Einige Amerikaner, z.B. Samuel Sewell, ein Richter aus Boston, wollten die neue Repu­blik sogar nach Kolumbus benennen, nach dem "großmütigen Helden (...) der augenschein­lich von Gott dazu bestimmt war, der Entdecker dieser Länder zu sein." Auch die Tammany Gesellschaft hatte ähnliche Pläne. Am 12. Oktober 1792 feierte diese katholische, ethnisch italienisch dominierte Gemeinschaft, die sich auch Kolumbus- Orden nannte, den, soweit man weiß, ersten Gedenktag der Landung des Kolumbus im Jahre 1492. Die Gesellschaft wollte der neuen Republik den Namen "Columbia" geben, aber diese Bemühungen blieben erfolglos. Vielleicht als Kompromiss nannte man im Oktober 1792 die neue Hauptstadt der Staaten "Washington, D.C." ; "D.C." ist die Abkürzung für "District of Columbia". Nach George Washington war Kolumbus der zweitgrößte Held der Nation geworden. (2)

Welche Bedeutung hatte Kolumbus, dem die jungen Amerikaner so viel Aufmerksamkeit widmeten, für sie gewonnen? Das Bild von Kolumbus erreichte mythische Ausmaße und ent­sprach mehr dem Selbstbild der revolutionären, antikolonialen, antiimperialistischen Ameri­kaner als der historischen Figur. Kolumbus war genauso wie sie und ihre puritanischen Vor­fahren ein Jahrhundert zuvor von Gott dazu auserwählt worden, Seinen Willen zu verwirkli­chen. Kolumbus` Kühnheit und Vision ließen ihn ein jungfräuliches Land entdecken, in dem es keine Könige, Stände und mittelalterliche Institutionen gab. Dieses Land war ein Ort des Neubeginns, an dem man Zuflucht vor dem alten Kontinent mit seinen einschränkenden Strukturen suchte. Die Gründungsväter der Vereinigten Staaten hoben hervor, dass Kolumbus in bescheidenen Umständen aufgewachsen war und diesen gesellschaftlichen Nachteil durch einen starken Willen, viel Mut und große Klugheit ausgeglichen hatte. In den Augen dieser Generation war er der Prototyp des "self-made man" und verwirklichte damit den amerikani­schen Traum. Er war eine starke Persönlichkeit, verließ Europa und bezwang den unbekann­ten Ozean, darin den Amerikanern ganz ähnlich, die einst Europa entflohen waren und über die wilde Natur in dem amerikanischen Kontinent gesiegt hatten. Die neue Nation, die keine eigene Geschichte und Mythologie hatte und darum nach einer eigenen Identität suchte, fand einen ihrer Helden in der fernen Vergangenheit, einen, der wie sie unter der Tyrannei der alten Welt gelitten hatte. Diese Amerikaner, die meist angelsächsischer und protestantischer Ab­stammung waren, übersahen oder akzeptierten die Tatsache, dass Kolumbus katholisch war und aus Italien stammte. Wichtig war für sie damals, dass er nicht britisch war.

Das Kolumbusbild des späten 18. Jahrhunderts

wurde im 19. Jahrhundert weiter ausge­malt. Der populäre amerikanische Schriftsteller Washington Irving machte einen romantischen Helden aus Kolumbus. In seinem 1828 erschienenen dreibändigen Werk mit dem Titel "Ge­schichte vom Leben und von den Reisen des Christoph Kolumbus" wurde der Entdecker als das große und einfallsreiche Genie dargestellt; er zeichnete sich durch edles Streben, große Ta­ten und einen weiten Horizont aus. Sein Leben zeigte, dass gewöhnliche Leute - er war ja der einfache Seemann aus Genua - Großes in Amerika erreichen konnten; er verkörperte eine amerikanische Lieblingsvorstellung, nämlich die Karriere vorn Bettler zum Millionär, vom Blockhaus zum Weißen Haus, vom Tellerwäscher zum Präsidenten. Wenn man überhaupt Fehler bei Kolumbus finden wollte, z.B. in seinen Navigationskünsten, in seinem Führungsstil oder in seinem Charakter, dann schienen sie unbedeutend oder aus der Zeit des Kolumbus heraus erklärbar.

Den Gipfel seines Ruhms in den Vereinigten Staaten erreichte er 1892, vierhundert Jahre nach seiner ersten Reise. Wenn Kolumbus 1792 die "Verheißungen" Amerikas offenbar ge­macht hatte, so bewies er 1892, dass sich "diese Verheißungen" in dem "Land der unbegrenz­ten Möglichkeiten" erfüllt hatten. Ein ganzes Jahr des Gedenkens an Kolumbus wurde organi­siert. Präsident Benjamin Harrison gab zu diesem Anlass eine Proklamation heraus:

"Hiermit bestimme ich, Benjamin Harrison, Präsident der Vereinigten Staaten, (...) Freitag, den 12. Oktober 1892, den 400. Geburtstag der Entdeckung Amerikas, zu ei­nem allgemeinen Feiertag für das Volk der Vereinigten Staaten. Die Menschen sollen an diesem Tag, soweit wie möglich, ihre Arbeit niederlegen und sich solchen Tätigkeiten widmen, mit denen sie am besten den Entdecker ehren und die Ergebnisse von vier­hundert Jahren amerikanischen Lebens würdigen können. Kolumbus galt zu seiner Zeit als Pionier des Fortschritts und der Leistung. In unserer Zeit ist eine institutionalisierte universale Erziehung das bedeutendste und wohltätigste Zeichen eines aufgeklärten Geistes. Darum sind Schulen besonders als Zentrum für die Feierlichkeiten geeignet. Lasst die Flagge der Vereinigten Staaten über jedem Schulhaus im Lande wehen und gestaltet die Festveranstaltungen so, dass sie unserer Jugend die patriotischen Pflichten eines amerikanischen Staatsbürgers einprägen. Dankt in Kirchen und anderen Versammlungsorten des Volkes der göttlichen Vorse­hung für die liebevolle Sorge und Führung, mit der Er unsere Geschichte geleitet und unser Volk im Übermaß gesegnet hat." (3)

Der Eid auf die amerikanische Flagge

Als Beitrag zum Kolumbus- Jahr und im Geiste der Rede von Präsident Harrison schrieb Francis Bellamy 1892 den Eid auf die amerikanische Flagge, der zum ersten Mal bei den nati­onalen Schulfeiern 1892 gesprochen wurde. Er wird noch immer täglich in den öffentlichen Schulen geleistet. (4) Italienische Einwanderer finanzierten eine Kolumbus-Statue aus italieni­schem Marmor für den Central Park in New York City, dieser Teil des Parks erhielt den Na­men "Columbus Circle". In ganz Amerika wurden zu Ehren von Kolumbus Paraden abgehal­ten, Feuerwerk in die Luft geschossen, Straßen umbenannt, Denkmäler errichtet, Münzen und Medaillen mit seinem Bild geprägt und Briefmarken mit seinem Konterfei gedruckt. Im Rah­men der Feiern, die ein Jahr währten, wurde Anton Dvorak als Dirigent für das Konzert am 21. Oktober 1892 zu Ehren von Christoph Kolumbus in der Carnegie Hall gewonnen. Bei der offiziellen Einführung des Maestros hielt der Mäzen Colonel Thomas Higginson die Festan­sprache mit dem Titel: Zwei neue Welten - Die neue Welt des Kolumbus und die neue W'elt der Musik. Anschließend richtete Higginson seine Worte direkt an Dvorak: er möge helfen, die neue Welt der Musik dem Kontinent, den Kolumbus gefunden habe, zu bringen. (5)

Die "World's Columbian Exposition"

Die Veranstaltung, die das neue Bild von Kolumbus am besten spiegelte, war die "W'orld's Columbian Exposition." Sie wurde - ein wenig verspätet - 1893 im Schmelztiegel Chicago auf einem Gelände eröffnet, das dreimal so groß wie das der letzten Weltausstellung 1889 in Paris war. Die W'orld's Columbian Exposition wurde von fast der Hälfte der amerikanischen Bevöl­kerung besucht und stand für große Erfolge und für noch größere Zukunftsperspektiven. Ko­lumbus diente nun nicht mehr als Ersatz für fehlende eigene Geschichte wie noch im 18. Jahrhundert, sondern war Symbol für die Gegenwart und die Zukunft eines blühenden Ame­rika geworden. (6)

"Der 1892 neugewählte Präsident Grover Cleveland knipste den Schalter der neuen Kraft an, die die Amerikaner "entdeckt" und entwickelt hatten, nämlich der Elektrizität: Er setzte damit zahllose Maschinen in Bewegung und erhellte das Ausstellungsgelände im Herzen Amerikas mit strahlendem Licht, das allen zeigte, dass die Vereinigten Staa­ten in der Welt angekommen waren. Hier in Chicago, in der zweitgrößten Stadt der USA, in einem trocken gelegten Sumpfgebiet des Mittleren Westens entstand die Welt­stadt der Zukunft, die so genannte "White City". Der Hintergrund dieses "Jubiläums der Menschheit" waren schnelle Industrialisierung, technologischer Fortschritt, öko­nomische Expansion und die Schließung der Frontier. Der Mann der Zukunft war jetzt Unternehmer, Eisenbahnbauer, Automobilhersteller, General. Kolumbus war in den Augen amerikanischer Patrioten, Nationalisten und Imperialisten der Prototyp des Un­ternehmers, der erste Mann der Zukunft. In diesem Sinne war die Rede zur Eröffnung der Weltausstellung in Chicago ein Dankgebet für die "bedeutenden Reisen, durch die Kolumbus die Schleier lüftete, die die Neue Welt vor der Alten verbargen und durch die er das Tor zur Zukunft der Menschheit öffnete."(7)

Auch die Indianer spielten eine aufschlussreiche Rolle bei dieser Selbstdarstellung in Chicago. Zur Erläuterung ist ein Rückblick erforderlich. Während der Weltausstellung in Philadelphia im Jahre 1876, die anlässlich der Centennial- Feiern der Unabhängigkeitserklärung der USA mit viel Aufwand ausgerichtet wurde, verbreitete sich die Nachricht wie ein Feuer, dass fünf Kompanien der 7. U.S. Kavallerie unter der Führung des aus dem Bürgerkrieg sehr bekannten Obersts George A. Custer im Kampf am Little Big Horn in Montana von dem Hunkpapa Si­oux Chief Sitting Bull besiegt worden sei. Kein Soldat in Custers Einheit hatte "Custer's Last

Stand" überlebt. Der Schock und die Fassungslosigkeit über diese Ereignisse ähnelten denen, die das Attentat vom 11. September 2001 auslösten. Die Regierung reagierte hart. Indianer wurden noch intensiver bekämpft und in Reservate gezwungen. 1890 - kurz vor der Eröff­nung der Weltausstellung in Chicago - fand der letzte Kampf zwischen "Weißen" und India­nern in der Schlacht am Wounded Knee statt. Die "Native Americans" wurden endgültig be­siegt und das Indianer-Problem aus der Sicht der Weißen triumphal gelöst. Während der Co­lumbian Exposition in Chicago präsentierte der Historiker Frederick Jackson Turner bei der Jahrestagung der American Historical Association in Chicago seine berühmte Frontier-These: Die Frontier, die Quelle der amerikanischen Demokratie, sei jetzt geschlossen. Zivilisation ha­he die Barbarei besiegt, ein wilder Kontinent sei gezähmt. In diesem Geist des siegreichen Fortschritts wurden die Indianer in Chicago 1893 präsentiert. Ein Sioux Dorf wurde rekon­struiert, Vertreter der Sioux fungierten dort längere Zeit als Beispiele für "professional scal­per" oder "man of Ieisure". Die Hütte von Sitting Bull, dem Sieger über Custer, wurde in der Ausstellung aufgebaut und als "squalid hut" in Kontrast zu den großartigen modernen Ge­bäuden präsentiert. Die Indianer wurden mehr als Tiere denn als Menschen dargestellt, sie dienten als Beispiel für die wilde Natur vs. Zivilisation, sie waren Gegenstände der Neugier. Die Zivilisation und Kultur der Indianer war nicht präsent. Die Weltausstellung war ein bered­ter Ausdruck von dem herrschenden Darwinismus der Zeit, indem sie die Überlegenheit der weißen Rasse über die Indianer- übrigens auch über die Schwarzen - demonstrierte. (8)

Die „Christopher Columbus Quincentenary Jubilee Commission"

1992. Die "Christopher Columbus Quincentenary Jubilee Commission" wurde schon 1984 (!) vom Congress geschaffen, um die "commemoration" der Reisen von Kolumbus zu planen und zu koordinieren. Man hatte wie ein Jahrhundert zuvor ein ganzes Jahr für Feiern vorgese­hen. Sponsoren wurden gefunden, die Trommeln, Trompeten und Halskrausen wurden aus­gekramt; die neue Jubelfeier, die noch spektakulärer als ein Jahrhundert zuvor werden sollte, stach in See.(9) Bei einer der ersten Medienpräsentationen geriet das Jubiläumsschiff in Sturm. Oder, wie Journalist Garry Wills 1990 in der New York Review of Books schrieb, "etwas Ei­genartiges passierte auf dem Weg in die Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas (...) Kolumbus wurde von den Indianern überfallen."

"Kolumbus hat Amerika nicht entdeckt," sagte eine Gruppe von Indianern, "wir entdeck­ten Kolumbus. Wir empfingen ihn herzlich als Gast, und er benahm sich abgrundtief schlecht." (10) Viel schärfer formulierte Russell Means von der American Indian Movement, wenn er sagte, dass Kolumbus "Hitler wie einen jugendlichen Hooligan aussehen lässt." Der indianische Aktivist Vernon Bellecourt forderte zu "militanten Demonstrationen" gegen die Feiernden von 1992 auf, "um die Kerzen ihres Geburtstagskuchens auszublasen". Der Vor­stand des vorwiegend protestantischen Rats der Kirchen in den Vereinigten Staaten beschloss, dass in Anbetracht "des Genozids, der Sklaverei, des Ökozids und der Ausbeutung", die auf die Entdeckung des Kolumbus gefolgt waren, die fünfhundertjährige Wiederkehr dieses Tages eine Zeit der Reue und nicht des Jubels sein sollte. Die Gesellschaft der Bibliothekare der USA nannte das Jahrhundert der europäischen Entdeckung und Kolonisation der westlichen Hemisphäre den "Native American Holocaust". Kirkpatrick Sales startete den giftigsten An­griff auf Kolumbus. Sein Buch "Die Eroberung des Paradieses" stellt Kolumbus als einen käuflichen Glücksjäger dar, dessen Vermächtnis die Zerstörung der eingeborenen Bevölke­rung und des Landes war, eine Zerstörung, die nach Meinung des Verfassers auch heute noch anhält. Kolumbus wurde als ein Sexualverbrecher gesehen, als ein Plünderer, ein Sklavenhänd­ler, ein Massenmörder, vergleichbar mit Hitler und Pol Pot. Er war ein Symbol für Imperia­lismus und Ausbeutung; er stand nicht für Fortschritt, sondern für Untergang.

Noch einmal ...

Noch einmal hatte sich das Kolumbus- Bild geändert. Nachdem es im 18. Jahrhundert als Er­satz für den fehlenden Mythos und im 19. Jahrhundert als Spiegel eines selbstbewussten Un­ternehmertums und einer arrivierten Nation gedient hatte, war es nun durch die Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen der nordamerikanischen Indianer geprägt: Es war zerkratzt. Das hat­te weit reichende Folgen für die Feierlichkeiten im Gedenkjahr 1992. Der erste Direktor der Kommission für die Kolumbus- Feiern trat zurück. Die Wortwahl der Kommissionsmitglieder änderte sich. Sie sprachen bald nicht mehr von "Entdeckung", sondern von "Begegnung" o­der "Kontakt". Aus den anfänglich geplanten Feiern und Jubiläen wurden "Gedenktage". "In­dians", die sich in den 60er-Jahren "Native Americans" nannten, wurden jetzt "Native Peo­ples"; mit dieser Bezeichnung wollten sie ihre Solidarität mit den mittel- und südamerikani­schen Indianern zum Ausdruck bringen. Fast keine Veranstaltung zum Gedenken an Kolum­bus fand ohne Proteste statt.

Die kritische Haltung der Indianer und anderer Minderheiten

Was waren die Ursachen für die kritische Haltung der Indianer und anderer Minderheiten? Nicht nur sie, sondern auch zahlreiche Intellektuelle hatten seit Jahren bezweifelt, dass die Amerikaner eine einheitliche Nation bildeten und eine nationale Identität besaßen. Die breite Mehrheit der Amerikaner hielt zwar an diesem Glauben fest und beschwor die Einheit durch Riten und Mythen, zu denen auch Kolumbus zählt. Aber seit der Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahren mussten auch sie den Protest der Indianer und der Schwarzen zur Kenntnis neh­men, die schon immer von dem amerikanischen Traum ausgeschlossen waren und nun Gleichberechtigung und Teilhabe an Wohlstand und Freiheit einforderten. In diesem Zusam­menhang begann auch die Suche nach ihrer ganz eigenen Identität. Die aufwändigen Feiern der 500-jährigen Wiederkehr der "Entdeckung" Amerikas wurden als Anlass für erneute und verstärkte Forderungen nach einer ethnozentrisch und sozialer ausgerichteten Orientierung der amerikanischen Gesellschaft genutzt. Die Mehrheit der ethnischen Minderheiten bejaht den amerikanischen Traum als Ganzes, sie will lediglich mehr an ihm beteiligt werden; sie will mehr Gleichheit, mehr sozialen Ausgleich und mehr Achtung für ihr ethnisches Erbe. Kleine­re, sehr beredte, ethnozentrisch orientierte Gruppen lehnten die These von einer nationalen Identität gänzlich ab, sie fühlten sich durch die geplanten Feiern für Kolumbus zu den oben zitierten Äußerungen provoziert. Für sie war und ist der amerikanische Traum ein Albtraum; in Wirklichkeit gebe es in den USA nur viele ethnische Gruppen nebeneinander. Kolumbus und alles das, wofür er steht, bedeuteten Unterdrückung. Einige gingen so weit, einen eigenen Staat für ihre ethnische Gruppe zu verlangen. Auch wollten sie Lehrpläne an Schulen und U­niversitäten reformieren, da sie zu europäisch seien, Kolumbus als Helden darstellten und ihre eigenen Kulturen, Geschichte und Traditionen zu wenig berücksichtigten. Indianer fanden ih­re Identität im vorkolumbischen Amerika. Radikale Latinos, Nachkommen mittel- und süd­amerikanischer Indianer, verlangen, dass in den Schulen Spanisch gelehrt und neben Englisch als eine offizielle Sprache in den Vereinigten Staaten zugelassen wird.

Die ethnische Debatte

Wird die Einheit der Vereinigten Staaten durch diesen Ethnozentrismus bedroht? Einige Be­obachter der amerikanischen Gesellschaft hegen diese Befürchtung. Am deutlichsten hat sie Arthur Schlesinger, Jr. ausgesprochen, der ein Buch mit dem Titel veröffentlichte: "Die Entei­gung von Amerika. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft". (11)Er sieht in dem Aufbranden ethnischen Bewusstseins auch gesunde Momente; aber grundsätzlich hält er die

ethnozentrischen Tendenzen für schädlich, weil sie zur "Fragmentierung, zur erneuten Ras­sentrennung und zur Zersplitterung in Stämme im amerikanischen Leben" führten. Die ethni­sche Debatte dauert an, die Zahl der Menschen, die ethnische Forderungen erheben, wächst und Vertreter dieser Positionen nehmen zunehmend Einfluss auf die Innenpolitik. Gleichzei­tig werden sie stärker an den nationalen Riten beteiligt. So umarmte Präsident Clinton bei sei­ner offiziellen Einführung im Januar 1993 den afroamerikanischen Rapper LL Cool. Die afro­amerikanische Dichterin und Schriftstellerin J. Maya Angelou trug ein Gedicht vor.

 

Der 11. September 2001 hat aus allen ethnischen Gruppen zunächst wieder Amerikaner ge­macht. Aber wird diese Einheit Bestand haben? Und welche Rolle wird Kolumbus darin spie­len?

 

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(1) James Axtell. A Confluence of Cultures, in: DIALOGUE, 2, 1992, S. 16. Reprinted from Humanities, Bd. 12, Nr. 5, Sept./Okt. 1991.

(2) Zitate in John Noble Wilford: Discovering Columbus, in: THE NEW YORK TIMES MAGAZINE, 11. Aug. 1991, Section 6, S. 45. Vgl. auch The Trouble with Columbus, in: TIME INTERNATIONAL, Nr. 40, 7. Okt. 1991, S. 52-56.

(3) Robert J. Myers. Celebrations. The Complete Book of American Holidays. Doubleday & Co., New York, 1972, S. 244 f.

(4) Dennis Kelly: "Our Patriotic Mantra for 100 Years, "in: USA TODAY, 8. Okt. 1992, S. 9A-10A.

(5) Klaus Döge. Dvorak. Leben, Werke, Dokumente, Schott & Piper, Mainz & München, 1991, S. 256-289.

(6) Zur Weltaustellung vgl. Petra Krutisch: Aus aller Herren Länder. Weltausstellungen seit 1851, in: Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum, Bd. 4, 2001, S. 85-93.

(7) Wilford, 46.

(8) Elizabeth Atwood Lawrence. His Very Silence Speaks. Comanche. The Horse Who Survived Custer's Last Stand. Wayne State University Press, Detroid, Michigan, 1989, S. 110-129.

(9) Vgl. Five Hundert. Official Publication of The Christopher Columbus Quincentenary Jubilee Commission, Washington, D. C. 1989 ff. Ähnlich wie ein Jahrhundert davor sollte eine großartige, teuere musikalische Produktion entstehen. Die Metropolitan Opera beauftragte George Glass, eine Oper zu schreiben. "The Voyage" kostete über $2 Millionen. Vgl. International Herald Tribune, 15. Okt. 1992, S. 20.

(10) Dieses und die folgenden Zitate bei Wilford, S. 49.

(11) Arthur M. Schlesinger, Jr. The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society. Rev. und ergänzte Ausgabe. New York: w. w. Norton, 1998.

 

 

(Sheldon, William F.: Adios Columbus: Die Entdeckung des Kolumbus in Amerika. In: Stamm-Kuhlmann, Thomas; Elvert, Jürgen; Aschmann, Birgit; Hohensee, Jens (Hrsg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner  Verlag 2003, S. 325-332)

Franz Steiner Verlag
Stamm-Kuhlmann, Thomas; Elvert, Jürgen;  Aschmann, Birgit; Hohensee, Jens (Hrsg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003.
Stamm-Kuhlmann, Thomas; Elvert, Jürgen; Aschmann, Birgit; Hohensee, Jens (Hrsg.): Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003.
Adios Columbos: Die Entdeckung ...
"Look what I discovered!"
Karikatur von Bob Engelhart, in: Hartford Courant, reproduziert in international Herald Tribune, 28. Juli 1992, S.8; ebd., Abb. S. 326.
Karikatur von Bob Engelhart, in: Hartford Courant, reproduziert in international Herald Tribune, 28. Juli 1992, S.8; ebd., Abb. S. 326.