Brepols
Von Kunst und Temperament
Une œuvre d'art est un coin de la création
vu à travers un tempérament
Êmile Zola, Mes Haines, 1866
Die Beziehung von Kunst und Temperament im Titel dieser Festschrift nimmt ihren Ausgang in dem oben zitierten Ausspruch Émile Zolas aus der 1866 unter dem Titel Mes Haines publizierten Sammlung kunstkritischer Aufsätze. In Opposition zu Proudhons Idealismus konstatiert Zola, ein Kunstwerk sei ein Stück Schöpfung gesehen durch ein Temperament. Über seinen ursprünglichen zeitgebundenen Kontext ist dieses Diktum seither hinausgewachsen und hat sich zum Topos entwickelt. Als Leitgedanke der vorliegenden Aufsätze zu Ehren des Kunsthistorikers Eberhard König beschränkt es sich daher keinesfalls auf die Auseinandersetzungen um den Naturalismus im 19. Jahrhundert, wenngleich daraus entscheidende Impulse für bis heute gültige Fragen unseres Fachs gewonnen wurden. Darüber hinaus aber liegt im Begreifen von Kunstwerken als Spiegelungen von Welterfahrung durch das individuelle Temperament eines Künstlers eine Kernaufgabe der Kunstgeschichte, die Eberhard Königs Arbeitsweise vielleicht am sinnfälligsten charakterisiert.
Kunstgeschichte, wie Eberhard König sie betreibt und lehrt, basiert auf der Überzeugung, daß Künstler und ihre Werke prinzipiell nicht allein von äußeren Faktoren wie Bestimmung und Funktion, Auftraggeber, oder ikonographischer Konvention, Zeit- und Orts- oder Werkstattstil bestimmt sind. "Wenn es zum Kern der Aussage kommt", werden Kunstwerke immer von einem individuellen Temperament geschaffen. Je weniger äußere Quellen über einen Künstler vorliegen desto bedeutender wird der Quellenwert der Kunstwerke selbst, bei Büchern das gesamte Gefüge des Kodex. Dies gilt besonders bei anonymen Künstlern, mit denen sich Eberhard König vorrangig befaßt. Zur Methode erhoben wird diese Arbeitsweise durch Eberhard Königs Maxime, eine Künstlerpersönlichkeit könne erst dann definiert werden, wenn sie als Ergebnis einer nachvollziehbaren Formung abgrenzbar sei. Aus der Erkenntnis unverwechselbarer Individualität mit prädisponiertem Temperament und geformtem Charakter lassen sich somit Künstlerpersönlichkeiten etablieren.
Manche bedeutende französische Künstler des 15. Jahrhunderts verdanken Eberhard Königs Forschungen ihre Wiederentdeckung oder entscheidende Erkenntnisse über ihren künstlerischen Charakter, wenn er auch meist der Versuchung widerstand, sie aus dem reichlichen Angebot mit einem überlieferten Namen zu versehen: Mit seiner Dissertation zur französischen Buchmalerei um 1450 begründete er beispielsweise ein wichtiges Element der heute gültigen Sichtweise vom Beginn der Renassance in der französischen Malerei. Das vermeintliche Jugenderk Jean Fouqets kennt man seither als Œvre zweier älterer Künstler, des Jouvenel-Meisters und des Meisters des Genfer Boccacio. Auf ähnliche Weise beschäftigte ihn zuletzt die Abgrenzung zweier Charaktere aus dem Kern eines der majestätischsten Stile einer früheren Künstlergeneration, jenem des sogenannten Rohan-Meisters.
Eberhard Königs stilanalytische Studien beschränken sich nicht auf rein kennerschaftliche Stilkunde, sondern berühren eine weitere Bedeutungsschicht des Diktums vom Temperament. Gemeint ist der Blick des Künstlers auf die gesamte Schöpfung, der nicht nur die sichtbare Natur individuell wahrnimmt und aus seinem Empfinden wiedergibt, sondern die Auffassung von dem betrifft, was die Welt ist und was die Kunst soll und vermag. (...)
(Auszug aus dem Vorwort, ebd., S.9)