Erkenntnis, Begriff, Kultur
Kulturphilosophie
Die Kulturphilosophie als ein Gebiet der Theoretischen Philosophie, beschäftigt sich mit kulturellen Phänomenen unter sowohl deskriptiven Gesichtspunkten ihrer historischen Genese und Funktion als auch normativen Aspekten ihrer aktuellen Geltung.
Die Philosophie als "Theorie der Kultur und der Kulturwissenschaften", um die es in diesem Zusammenhang nur gehen kann - so Schwemmer - muss als eine Aufgabe erscheinen, die erst über die philosophische Erweiterung disziplinärer Perspektiven in den Blick gerät. Die Möglichkeit zu einer derartigen Erweiterung zeigt sich inbesondere in dem Versuch, die Wissenschaften, die Philosophie und unsere geistigen Orientierungsformen - als Ausrucksmöglichkeiten und Verstehensformen - in ihrer grundlegenden Charakteristik zu erfassen.
"Wir sind nie nur wir selbst als in sich abgeschlossene Individuen. Wir sind immer auch das, was die anderen sind, die in unserer Kultur leben. Das macht den Austausch und den Umgang mit diesen anderen in derselben Kultur leichter. Auch wenn wir uns nicht verstehen, miteinander streiten oder gegeneinander kämpfen, verbleiben wir im Umkreis gemeinsamer Symbole und Orientierungen. Wir verlieren dann nicht die eigene Orientierung. Wir mögen Gegner sein. Aber wir sind uns in einem elementaren Sinne vertraut. Wir erkennen die Richtung unserer Gefühle und Äußerungen, auch wenn sie sich gegeneinander wenden. Dies ist anders in unserem Verhältnis zu den kulturell Anderen, zu den anderen, die in einer anderen Kultur leben. Sie sind uns in einem elementaren Sinne fremd ..." (op. cit.,Schwemmer, Oswald: Mischkultur und kulturelle Identität. Einige Thesen zur Dialektik des Fremden und Eigenen in der Einheit einer Kultur, These 6 in: IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse 2002)
Mischkultur und kulturelle Identität
Kulturen - obgleich selbst keine homogenen Gebilde - prägen das Leben der Menschen und verleihen ihnen eine öffentlich erkennbare Identität. Sie erweisen sich als Inbegriff der in der Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen und offerieren ein gewöhnlich als Einheit empfundenes Repertoire kollektiv verfügbarer, schlichtweg "gegebener" Ausdrucksmöglichkeiten. (vgl. ibid)
Die Frage nach dem Verhältnis des Fremden und des Eigenen in einer Kultur artikuliert - so Schwemmer - mehr als eine Frage an die historische Genese dieser Kultur. Uns allen, die wir in den Sog dieser kommerziellen und kulturellen, politischen und technischen, administrativen und militärischen Globalisierung geraten sind, benennt sie exemplarisch ein Problem, das nur als Paradox formuliert werden kann: Die regionalen Kulturen erfahren eine immer stärkere Aushöhlung und Anreicherung mit Versatzstücken einer minimalistischen Einheitskultur. Zugleich verstärkt sich jedoch das Bedürfnis nach der Pflege einer eigenen, regionalen Kultur bis hin zum drohenden oder wirklichen "Kampf der Kulturen" (Samuel P. Hunington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München et al. 1996). (vgl. ibid.)
Zugleich entsteht im Verschwinden des kulturell Eigenen in einem kulturellen Allgemeinen die Wiederentdeckung der eigenen kulturellen Besonderheit, bisweilen sogar bis hin zu einem kämpferisches Bestehen auf dieser Besonderheit; dies unter allen Umständen und gegenüber allen Verfremdungen, bis hin zu einem kulturellen Fundamentalismus. (vgl. ibid.)
Schwemmer trägt in seinem Beitrag - erschienen 2002 im IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse - einige allgemeine Überlegungen zur kulturellen und individuellen Identität, zum Austausch zwischen den Kulturen und zum Verstehen des Fremden wie dem Verstehen seiner selbst vor. 16 Thesen - aufgeteilt auf drei Gruppen - sind
- (1) dem Sinn und den Schritten einer Identitätsbildung
- (2) der Polarität von Fremdem und Eigenem
- (3) der Integration des Fremden im Eigenen
gewidmet. (vgl. ibid.)
Kulturelle und persönliche Identität
Unsere kulturelle oder individuelle Identität hat ihren Ursprung in einem geordneten Gefüge von Ausdrucks- und Wahrnehmungs-, von Denk- und Handlungsformen sowie von Formen des Fühlens und Wollens, die uns als Muster in unserem Leben eine Orientierung bieten. Wir gewinnen unsere Idendität durch dieses Gefüge, das unser Leben prägt. Wir sind gleichsam mit ihm verwachsen und haben es als unsere eigene Lebensform verinnerlicht. (vgl. ibid., These 1)
Ohne diese Identität der "verinnerlichten Orientierungsmuster" wären wir unfähig zu existieren. Mithin ist Identität nicht etwa etwas, was man sich einfach zu- und auch wieder ablegen kann, sondern die "Form unseres Selbst", ohne die wir schon kein Selbst wären. (vgl. ibid., These 2)
Wir gewinnen unsere Identität - wir werden wir selbst - allein dadurch, dass wir unsere Ausdrucks- und Wahrnehmungs-, unsere Denk- und Handlungsformen, die Formen unseres Fühlens und Wollens mittels der Symbole unserer kulturellen Umwelten ausbilden und zugleich zu Symbolen unseres eigenen Lebens verdichten und verfestigen. Somit erweist sich jede geistige Formbildung als eine Symbolisierung. Kulturelle Identität - so Schwemmer - hat nur eine symbolische Existenz (vgl. ibid., These 3)
"Die symbolische Fixierung unseres Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Bewusstseinslebens schafft die Möglichkeit, ein geistiges und kulturelles Leben zu entwickeln. Oder anders gesagt: Die symbolische Befestigung der fließenden Gefühls- und Bewusstseinswelten schafft Konturen, gibt uns eine geistige Gestalt, mit der wir uns in der Welt präsentieren und uns zu einem Selbst gestalten können. Die expressiven, affektiven und emotionalen Grundlagen unserer Existenz sind gleichsam die strömenden Energien unserer geistigen Existenz, die in den Symbolen einer Kultur ihre Form finden und dadurch zu den Motiven und Impulsen unseres Denkens, Fühlens und Wollens werden können. Unsere geistige Formung ist eine individuelle Formung in einer Welt von kulturellen Formen, in einer Welt von ineinander verschränkten Formwelten, von Bild- und Sprach-, von Handlungs- und Wahrnehmungs-, von Ausdrucks- und Hörwelten sowie von allen anderen Welten, in denen Formen des Lebens sich in Symbolen befestigt haben. Die symbolischen Welten sind die Atmosphäre, in der wir als geistige Wesen atmen, bilden ein Gestaltungspotential, das in die Poren unseres Denkens, Fühlens und Wollens, unseres Wahrnehmungs- und Ausdruckslebens eindringt und es mitformt. Wir sind durch und durch Kulturwesen ..." (op. cit., ibid., These 4)
Wilhelm Fink Verlag
Eine medientheoretische Grundlegung
Die mit dem Buch von Oswald Schwemmer vorgestellte Grundlegung etabliert Kulturphilosophie als eine systematisch organisierte Disziplin, und zwar als Ansatz für Forschungen, die auch über die geistigen Verhältnisse der Menschen ein empirisches Wissen bilden können. Angesichts der historischen Kontingenz und Vielfalt der verschiedenen Kulturen konzentriert sich die vorliegende Darstellung auf die - z. B. bildlichen und begrifflichen - Medien, die als kollektiver Grundbestand die Formen der menschlichen Artikulation und Sinnbildung in einer Kultur prägen. Das Buch bietet eine Grundlegung auch für Leser, die sich in den oft verwirrenden Disputen der Philosophie noch nicht verfangen haben. Eine Orientierung auf dem gedanklichen Weg dieser Grundlegung soll die Begriffskette Artikulation und Medium - Medium und Symbol - Symbol und Form - Form und Sinn - Sinn und Bild - Bild und Begriff - Begriff und Kultur geben, mit der die einzelnen Kapitel über ihre Titel zusammengehalten werden. Die Titelbegriffe stehen dabei für die Themenfelder, mit denen sich die Überlegungen in den jeweiligen Kapiteln auseinandersetzen. Diese Fokussierung auf ganze Themenfelder erlaubt es, in einigen Exkursen auch Um- oder Seitenwege in diesen Gebieten zu gehen. Dass die gedanklichen Wege dieser Grundlegung am Ende wieder zu ihrem Ausgangsbegriff Kultur zurückführen, zeigt, dass das Ende auch als ein neuer Anfang, nämlich zur Fortsetzung des Projektes einer medientheoretisch orientierten Kulturphilosophie gelesen werden kann.
Die systematischen Fragen der Philosophischen Anthropologie, der Kulturphilosophie und der Wissenschaft der Kulturwissenschften fokussieren sich in der Auseinandersetzung mit dem Werk Ernst Cassierers und dem Konzept einer Philosophie der symbolischen Formen.
Ernst Cassirer (1874-1945)
Ernst Cassirer, geboren am 28.7.1874 in Breslau, studierte nach einem glanzvollen Abitur zunächst Jurisprudenz in Berlin, dann Philosophie und Literatur in Leipzig, Heidelberg und wieder Berlin. 1896 wechselt er nach Marburg zu dem Neukantianer Hermann Cohen, bei dem er 1899 promovierte; 1902 erschien sein erstes Buch "Leibniz' System, 1906 der erste, 1908 der zweite Band seiner vierbändigen Darstellung zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 1910 folgte mit Substanzbegriff und Funktionsbegriff seine erste große systematische Arbeit.
Von 1919 bis 1933 lehrte Cassirer an der neugegründeten Universität Hamburg Philosophie und schrieb - angeregt durch seine Forschungsprojekte an der "Bibliothek Warburg" - von 1923 bis 1929 die drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen. 1930 wurde er Rektor der Universität. 1933 emigrierte er über England zunächst nach Schweden, später in die USA. Dort erschien 1944 An Essay on Man und posthum The Myth of the State, seine große Auseinandersetzung mit der Idee des Staates und den Ursprüngen des Totalitarismus. Cassirer starb am 13.4.1945 in New York.
Felix Meiner Verlag
Philosophie der symbolischen Formen
Ein wesentlicher Schritt zur Erweiterung der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie erfolgte bei Ernst Cassirer (1874-1945) - in Anlehnung an Paul Natorp - durch die Erweiterung des Begriffs der Erkenntnis zum Leitbegriff des Erlebens. In Anlehnung an Hermann von Helmholtz und Heinrich Hertz entwickelte er den Begriff der symbolischen Formen als Deutungsschema des Menschen für seine Erlebnisse.
"Heinrich Hertz ist derjenige moderne Forscher, der in seinen »Prinzipien der Mechanik« (1894) die Wendung von der »Abbildtheorie« der physikalischen Erkenntnis zu einer reinen »Symboltheorie« am frühesten und am entschiedensten vollzogen hat. Die Grundbegriffe der Naturwissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Kopien und Nachbilder eines unmittelbar dinglich Gegebenen; sondern sie werden als konstruktive Entwürfe des physikalischen Denkens eingeführt - als Entwürfe, deren theoretische Geltung und Bedeutsamkeit an keine andere Bedingung geknüpft ist als daran, daß ihre denknotwendigen Folgen stets wieder mit dem in der Erfahrung Beobachtbaren übereinstimmen.[15] In diesem Sinne läßt sich jetzt die gesamte Welt der physikalischen Begriffe, wie es Helmholtz in seiner Erkenntnistheorie tat, als eine Welt reiner »Zeichen« definieren. Vergleicht man diese Wendung mit den erkenntnistheoretischen Grundvoraussetzungen der »klassischen« Naturtheorie, so tritt ein eigentümlicher Gegensatz hervor ..." (op. cit., Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe (ECW), Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 11-13, CD-ROM 2002, Die symbolische Erkenntnis und ihre Bedeutung für den Aufbau der Gegenstandswelt, XIII23)
Sinnliche Zeichen sind nicht nur Begriffe (vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft), mit der die Spontaneität des Verstandes nach bestimmten Regeln das Erlebte mit Bedeutung belegt. Sinnliche Einzelinhalte werden durch Symbole zu Trägern einer allgemeinen geistigen Bedeutung ausgeformt. Symbolische Formen stellen Grundformen des Verstehens dar, die universell und intersubjektiv gültig sind.
"Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhan|denes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte »Bedeutung«, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind ..." (op. cit., ibid., Philosophie der Symbolischen Formen, Einleitung und Problemstellung I, Der Begriff der symbolischen Formen und die Systematik der symbolischen Formen, XI7)
Der Inhalt des Kulturbegriffs lässt sich nach E. Cassirer von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen. Das "Sein" ist hier nirgends anders als im "Tun" erfassbar. Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur - die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion - werden, ungeachtet ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhanges. Sie bilden mannigfache Ansätze, die alle auf das eine Ziel bezogen sind: die Umbildung der passiven Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks. (vgl. Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe 2001, Bd.11: Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, S. 10)
Die dreibändige "Philosophie der symbolischen Formen" ist das herausragende Werk, in dem E. Cassirer die Transformation der traditionellen Transzendentalphliosophie zur Kulturphilosophie vollzog. An die Stelle des rein rationalen Erkennens, dem in der Philosophie der Neuzeit immer ein Primat zukam, tritt die Pluralität von symbolischen Formen, in denen sich jeweils eine spezifische Spontaneität des menschlichen Geistes bekundet.
"Die Schrift, deren ersten Band ich hier vorlege, geht in ihrem ersten Entwurf auf die Untersuchungen zurück, die in meinem Buche "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" (Berlin 1910) zusammengefaßt sind. Bei dem Bemühen, das Ergebnis dieser Untersuchungen, die sich im wesentlichen auf die Struktur des mathematischen und des naturwissenschaftlichen Denkens bezogen, für die Behandlung g e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e r Probleme fruchtbar zu machen, stellte sich mir immer deutlicher heraus, daß die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung für eine methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften nicht ausreicht. Sollte eine solche Grundlegung gewonnen werden, so schien der Plan dieser Erkenntnistheorie einer prinzipiellen Erweiterung zu bedürfen. Statt lediglich die allgemeinen Voraussetzungen des wissenschaftlichen E r k e n n e n s der Welt zu untersuchen, mußte dazu übergegangen werden, die verschiedenen Grundformen des "V e r s t e h e n s" der Welt bestimmt gegeneinander abzugrenzen und jede von ihnen so scharf als möglich in ihrer eigentümlichen Tendenz und ihrer eigentümlichen geistigen Form zu erfassen. Erst wenn eine solche "Formenlehre" des Geistes wenigstens im allgemeinen Umriß feststand, ließ sich hoffen, daß auch für die einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ein klarer methodischer Überblick und ein sicheres Prinzip der Begründung gefunden werden könne ..." (op. cit., ibid., S. VII)
Die Sprache
Im ersten Band der "Philosophie der symbolischen Formen" untersucht E. Cassirer die Sprache als symbolische Form, die er in einer Theorie des kulturellen Sinnverstehens systematisch begründet.
"Und daß es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, daß alle diese Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten. Sie alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewußtseinserscheinungen hinaus - sie beanspruchen, ihnen gegenüber ein Allgemeingültiges hinzustellen ..." (op. cit., ibid., S. 19)
Felix Meiner Verlag
Die dreibändige "Philosophie der symbolischen Formen" ist das herausragende Werk, in dem Cassirer die Transformation der traditionellen Transzendentalphilosophie zur Kulturphilosophie vollzog. An die Stelle des rein rationalen Erkennens, dem in der Philosophie der Neuzeit immer ein Primat zukam, tritt die Pluralität von symbolischen Formen, in denen sich jeweils eine spezifische Spontaneität des menschlichen Geistes bekundet. Im ersten Band der PsF untersucht Cassirer die Sprache als symbolische Form, die er in einer Theorie des kulturellen Sinnverstehens systematisch begründet.
Das mythische Denken
Der zweite Teil der "Philosophie der symbolischen Formen" beschäftigt sich mit der philosophischen Analyse der Form des Mythos vom Standpunkt des Systems der geistigen Ausdrucksformen aus. Die Strukturbetrachtung zielt auf eine Bestimmung sowohl des eigentümlichen Sinnes als auch der Grenze dieser Form. Im Gegensatz zu dem verbreiteten Vorurteil der objektiven Nichtigkeit und somit Irrelevanz für die Philosophie kommt dem Mythos nach Cassirer eine besondere Bedeutung zu, wenn man sich die "Genesis der Grundformen der geistigen Kultur" vor Augen führt.
"Vielmehr liegt die entscheidende Leistung jeder symbolischen Form eben darin, daß sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als ein für allemal feststehende im voraus hat, sondern daß sie diese Grenze selbst erst setzt - und daß jede Grundform sie verschieden setzt. Schon aus diesen allgemeinen systematischen Erwägungen heraus werden wir auch für den Mythos vermuten dürfen, daß er sowenig mit einem fertigen Begriff vom Ich oder von der Seele wie von einem fertigen Bild des objektiven Seins und Geschehens seinen Ausgang nimmt, sondern daß er beide erst zu gewinnen, erst aus sich heraus zu bilden hat.[1] Und die Phänomenologie des mythischen Bewußtseins liefert in der Tat für diese systematische Vermutung die durchgehende Bestätigung. Je weiter man den Rahmen dieser Phänomenologie spannt und je tiefer man in ihre Grund- und Urschichten einzudringen sucht - um so deutlicher tritt hervor, daß der Seelenbegriff für den Mythos keine fertige und feste Schablone ist, in die er alles, was er erfaßt, zwangsläufig einreiht, sondern daß er für ihn vielmehr ein flüssiges und bildsames, ein wandlungsfähiges und gestaltungsfähiges Element bedeutet, das sich ihm, indem er von ihm Gebrauch macht, gewissermaßen unter den Händen verändert ..." (op. cit., ibid, Der Mytthos als Lebensform, XII182)
Phänomenologie der Erkenntnis
Im dritten, abschließenden Band der "Philosophie der symbolischen Formen" (1929) erweitert E. Cassirer den Begriff der Erkenntnis, der mit dem Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit die erste Phase seines Denkens bestimmt hat. Während dort die "exakte" Wissenschaft im Zentrum des Interesses stand, schreitet die Philosophie der symbolischen Formen zu einer Erweiterung des Begriffs der "Theorie" selbst fort und weist theoretische Formmomente auch außerhalb der wissenschaftlichen Begriffsbildungen im Weltbild der Wahrnehmung und Anschauung nach. Dazu greift Cassirer auf Phänomenologie, Psychologie und Pathologie der Wahrnehmung zurück.
"Wenn ich von einer "Phänomenologie der Erkenntnis« spreche, so knüpfe ich hierin nicht an den modernen Sprachgebrauch an, sondern ich gehe auf jene Grundbedeutung der »Phänomenologie« zurück, wie Hegel sie festgestellt und wie er sie systematisch begründet und gerechtfertigt hat. Für Hegel wird die Phänomenologie zur Grundvoraussetzung der philosophischen Erkenntnis, weil er an diese letztere die Forderung stellt, die Totalität der geistigen Formen zu umspannen, und weil diese Totalität nach ihm nicht anders als im Übergang von der einen zur andern Form sichtbar werden kann. Die Wahrheit ist das »Ganze« - aber dieses Ganze kann nicht auf einmal hingegeben, sondern es muß vom Gedanken, in seiner eigenen Selbstbewegung und gemäß dem Rhythmus derselben, fortschreitend entfaltet werden. Diese Entfaltung macht erst das Sein und das Wesen der Wissenschaft selbst aus. Das Element des Gedankens, in welchem die Wissenschaft ist und lebt, erhält daher seine Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens. »Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an das Selbstbewußtseyn, daß es | in diesen Aether sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. Umgekehrt hat das Individuum das Recht zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige. Sein Recht gründet sich auf seine absolute Selbstständigkeit, die es in jeder Gestalt seines Wissens zu besitzen weiß, denn in jeder, sey sie von der Wissenschaft anerkannt oder nicht und der Inhalt sey welcher er wolle, ist es die absolute Form, d. h. es ist die unmittelbare Gewißheit seiner selbst; und, wenn dieser Ausdruck vorgezogen würde, damit unbedingtes Seyn ..." (op.cit., ibid., XIII-VIII)
Erkenntnis, Begriff, Kultur
Felix Meiner Verlag
Dieser Band bietet sechs wichtige, im Original nur schwer zugängliche Aufsätze aus den Jahren 1913-39, in denen Cassirer die Grundzüge des in seinen Hauptwerken entwickelten Erkenntnisbegriffs darlegt und zeitgenössische Mißverständnisse zurückweist. Die Arbeiten dokumentieren die Etappen seines Denkweges von der Erkenntniskritik zur Begründung der Kulturphilosophie und erweisen insbesondere die Eigenständigkeit der Philosophie Cassirers gegenüber der Schule der Neukantianer, der er häufig zugerechnet wird.
Inhalt: Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik (1913) - Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie (1927) - Zur Theorie des Begriffs (1928) - Inhalt und Umfang des Begriffs (1936) - Was ist ›Subjektivismus‹? (1939) - Naturalismus und humanistische Begründung der Kulturphilosophie (1939).
In dem hier vorliegenden Band Cassirer, Ernst: Erkenntnis, Begriff, Kultur - erschienen im Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993 - sind zu den genannten Begriffen sechs, meist nur noch schwer greifbare Aufsätze Cassirers vereinigt und wieder allgemein verfügbar gemacht. Diese sind für das Verständnis seiner Philosophie von zentraler Bedeutung und beleuchten thematisch wie chronologisch ein Vierteljahrhundert (1913-1939) des Cassiererischen Denkwegs und seiner Entwicklung.
"Von all den einzelnen Gebieten, die wir innerhalb des systematischen Ganzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen, bildet die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten umstrittene Gebiet. Selbst ihr Begriff ist noch keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt. Hier fehlt es nicht nur an festen und anerkannten Lösungen der Grundprobleme; es fehlt vielmehr schon an der Verständigung darüber, was sich innerhalb dieses Kreises mit Sinn und mit Recht fragen läßt. Diese eigentümliche Unsicherheit hängt damit zusammen, daß die Kulturphilosophie die jüngste unter den philosophischen Disziplinen ist, und daß sie nicht, gleich ihnen, auf eine gesicherte Tradition, auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurückblicken kann. Die Gliederung der Philosophie in die drei Hauptteile der Logik, Physik und Ethik ist schon in der Antike vollzogen und seither fast unverändert festgehalten worden. Noch Kant hat diese Dreiteilung als gültig anerkannt; er hat erklärt, daß sie der Natur der Sache vollkommen angemessen sei und keiner Verbesserung bedürfe. Daß es neben diesen drei Gebieten, neben der Logik, der Moralphilosophie und der Naturphilosophie noch andere, selbständige Weisen und Richtungen philosophischer Fragestellung gibt, dessen wird sich das moderne Denken nur allmählich bewußt ..." (op. cit., ibid., S. 231)
Ernst Cassirer im Kontext
Jürgen Habermas hat in jüngeren Aufsätzen über Ernst Cassirer Perspektiven entworfen, durch die Cassirer auf originäre Weise im Gegenwartsdiskurs der politischen Philosophie konstelliert wird. In seiner jüngsten Studie (J. Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt / M. 2001, S.63-82) demonstriert Habermas in der Form eines Vergleiches zwischen Arnold Gehlens Biologismus und Cassirers Kultursymbolismus eine Forcierung seiner Kritik an der politischen Philosophie Hegels, deren Aktualität nicht nur überrascht sondern gleichsam eine neue Variante in den etwas älteren Disput zwischen Humanisten und Antihumanisten einführt. (vgl. Rudolph, Enno: Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003, S. VIII)
Dieser Text behandelt die symbolischen Relevanz und die kulturelle Unverzichtbarkeit der Institutionalisierung von Geschichte, und damit unserer sowohl moralischen als auch politischen Verpflichtung auf die Geltung solcher Symbole, wie z.B. Denkmäler, Monumente, Flaggen, wohl auch Manifeste und Rituale. (vgl. ibid., S.VIII)
Die hinter dieser Abhandlung zu erkennende Leitfrage zeugt von aporetischer Ambivalenz:
- Wie viel Institutionen braucht der Mensch ?
- Wie viel Institution aber verbraucht den Menschen ?
In diesem Essay verdeutlicht Habermas wie kaum ein anderer Cassirer-Interpret den inneren Zusammenhang von Symbolik und Befreiung bei Cassirer. Er wendet diese maßstäblich an, so etwa zunächst gegen Arnold Gehlen, dann aber - diese Konfrontation zum Anlaß nehmend - gegen den immer noch latent virulenten hegelschen Institutionstraditionalismus in unserem politischen und kulturellen Alltag. (vgl. ibid., S. VIII)
Hegel wie auch sein Nachfolger Gehlen werden diesbezüglich als Wegbereiter und Anwalt eines starken Institutionalismus, und das heißt einer kulturellen Verselbständigung der Institutionen verstanden. (ibid., S.67 ff.) Gegen diesen empfiehlt Habermas Cassirers "befreiende Kraft der symbolischen Formgebung" (J. Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, in: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt / M. 1997, S.9-40) als Kontrapunkt. Diese Konfrontation zeugt von einer noch ungebrochenen politischen Aktualität der Philosophie Cassirers , auf die er selbst im Rahmen seiner Hegelkritik in "Vom Mythos des Staates" aufmerksam macht. Raymond Klibansky (R. Klibanyky, Erinnerung an ein Jahrhundert. Gespräche mit Georges Leroux, Frankfurt / M. 2001, S.190) als auch eine Reihe von Kapiteln des vorliegenden Werkes widmen sich dieser thematischen Relevanz. (vgl. ibid., S. VIII)
Mohr Siebeck Verlag
"Die hier vorgelegten Studien - zum großen Teil in unterschiedlichen Zusammenhängen und zu unterschiedlichen Zeiten entstanden - sind allesamt im Blick auf eine gemeinsame Präsentation verfaßt worden. Sie sind gleichermaßen von der Motivation geleitet, Cassirers konstruktive Kant-Kritik jenseits der neukantianischen Schulrichtungen, seinen humanistischen Protest gegen den Staatsidealismus des Rechtshegelianismus und seine gescheiterte Apologie des Anliegens einer nachkantischen Kulturphilosophie gegen Heidegger zu konturieren. Dazu empfiehlt es sich, Cassirer über die genannten Gegner hinaus, aber auch unabhängig von den "üblichen" Kontextualisierungen mit Autoren zu korrelieren, zu denen er selbst bislang nicht ausreichend beleuchtete Affinitäten erkennen ließ - wie zu Platon, Cusanus oder Herder bzw. distanzierter zu Schleiermacher - oder bei denen wir ohnehin auffällige Berührungen inzwischen aus der Distanz heraus deutlicher zu erkennen in der Lage sind: Charles Sanders Peirce oder Hans Blumenberg ..." (op.cit., ibid., S. IX)
Enno Rudolph interpretiert das Werk Ernst Cassirers im Kontext der Auseinandersetzung mit Philosophen, die in der Cassirerrezeption gewöhnlich weniger Beachtung finden. Unter anderem handelt es sich dabei um Wilhelm Dilthey, Charles S. Peirce und Hans Blumenberg aus der jüngeren bzw. Platon, Cusanus, Leibniz und Schleiermacher aus der älteren Tradition. Es geht Enno Rudolph darum, gerade diejenigen Felder der Philosophie Cassirers in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, die von ihm selbst nicht mehr ausführlich behandelt werden konnten. So setzt er sich mit Cassirers Ansätzen auf den Gebieten der Wissenschaftstheorie, der Religion, der Geschichtsphilosophie und der Politik auseinander. In diesen Interpretationen erweist sich Ernst Cassirer als konstruktiver Entdecker einer authentischen Philosophie des Renaissancehumanismus und als kantkritischer Leibniz-Rezipient. Dabei profiliert er Cassirer sowohl als Vertreter eines konstruktiven Historismus als auch einer kulturrelativistischen Methodik.
Kultur und Religion
Religion als integraler Teil der humanen Kultur
Ernst Cassirer avanciert zu einer Schlüsselgestalt kulturwissenschaftlicher Diskurse. Cassirers Begriff der symbolischen Form - dieser erlaubt unterschiedliche Felder der Kultur zu strukturen und miteinander zu verknüpfen - hat entscheidend dazu beigetragen, dass sein Werk aus unterschiedlichen Perspektiven als Referenzpunkt angesehen wird. Die symbolischen Formen im Verständnis Cassirers versammeln ein Novum an Leistungen in sich, die einmal dem transzendentalen Subjekt zugeschrieben wurden, nämlich die Vornahme inhaltsreicher Synthesen der Wirklichkeitserkenntnis. Mit Hilfe dieses Symbolbegriffs kann der Versuch unternommen werden, von der Sprache über den Mythos, die Religion und die Kunst eine Brücke zur modernen (Natur-) Wissenschaft zu schlagen. Stets handelt es sich - wenn auch in unterschiedlicher innerer Konstellation und mit verschiedenem Aussehen - um dieselbe Figur, verdeutlicht im Ineinanderfügen von Sinnlichkeit und Sinn. (vgl. Korsch, Dietrich; Rudolph, Enno (Hrsg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur: Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, S. 1)
"Zu dieser Schlüsselgestalt ist Ernst Cassirer erst spät geworden. Die Verzögerung der Rezeption seines Werkes hat mit seinem Schicksal zu tun, als deutscher, jüdischer Emigrant leben und arbeiten zu müssen. Daß seine Arbeiten aber gegenwärtig so große Resonanz finden, hängt wiederum mit der Lage der Kultur in der Gegenwart zusammen; es ist der Kulturtheorie nämlich die Aussicht vergangen, einen äußerlich umfassenden, auf überschaubare Allgemeinheiten hinauslaufenden Kulturbegriff statuieren zu können. Auf die innere Vollzugsförmigkeit kultureller Deutungsprozesse kommt es statt dessen an ..." (op.cit., ibid., S. 1)
Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers bietet überraschende Einsichten in das Verhältnis von Kultur und Religion.
Dieser Gedanke der symbolischen Form, der die klassische deutsche Philosophie beerbt, gewinnt besondere Aktualität, sobald kein zusammenfassender Allgemeinbegriff von Kultur mehr gegeben werden kann, sie aber dennoch als ein großer Zusammenhag gedacht werden soll. Kultur als Ganzes baut sich erst im Vollzug des Begreifens auf. Somit wird Kultur auf neue Weise zu einem Thema der Theologie und die Religion selbst wird als Element der Kultur neu gedacht.
Hier zeigen sich dann auch Schwierigkeiten der Cassirerischen Theoriebildung selbst. Der Aufbauvorgang der symbolischen Formen - dokumentiert durch das Verhältnis von Kunst und Religion - erweist sich keineswegs als so selbstverständlich, wie Cassirer selbst anzunehmen scheint. Die Kunst per se läßt sich ohne Schwierigkeiten in das Schema der Symbolbildung aufnehmen. Die Religion hingegen haftet noch immer am Mythos, aus dem sie enstammt. Sie hat ihre "Erdenschwere aus vergangener Zeit" noch nicht überwunden und es scheint fraglich ob ihr das je gelingt. (vgl. ibid., S. 2)
"Auch die Religion hat in Cassirers Theorie ihr Fundament im Mythos. Ihre Existenz bedeutet allerdings nur eine Ausdifferenzierung innerhalb der Ausdrucksfunktion, bei der sie in einem Spannungsverhältnis, in einer Dynamik, zwischen zwei anderen symbolischen Formen erscheint. Unter dem Aspekt der Strukturgesetzmäßigkeit betrachtet, speist sich die "Identität" der Religion aus der nicht zur Ruhe kommenden Abgrenzung vom Mythos einerseits und aus der Gefahr, von der Kunst absorbiert zu werden andererseits, so daß sie von höchster Fragilität gekennzeichnet ist. Diese Fragilität wird noch unterstrichen von einer großen Ähnlichkeit mit dem Mythos auf der inhaltlichen Ebene: Den Kern beider symbolischer Formen bildet die Ur-Teilung von Heiligem und Profanem ..." (op. cit, Hädrich, Jürgen: Religionstheorie und Religionskritik in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, ibid., S. 40)
Damit bleibt allerdings auch Cassirers Konzept einer die Kultur durchdringenden Symbolhaftigkeit vorerst so offen wie das Geschick der Religion in der Kultur. Das vorliegende Werk macht auf diesen für die Theologie wie für die Kulturphilosophie bedeutsamen Sachverhalt aufmerksam. In den Beiträgen dieses Bandes wird die Frage, ob und wie Religion ein integraler Teil der humanen Kultur sein kann, von Theologen und Philosophen kontrovers diskutiert. Damit wird zugleich auch ein Grundproblem der Kulturphilosophie Cassirers erörtert.
Die Religion in der Sprache der Kultur
Die gegenwärtige Diskussion des Verhältnisses von Religion und Kultur geschieht selten ohne Bezug auf Schleiermacher oder Cassirer. Beide haben prominente Kulturphilosophien entwickelt, deren Wirkungsgeschichte bis in die aktuellen Debatten reicht. Umso mehr erstaunt, dass ein eingehender Vergleich beider Positionen bislang gefehlt hat.
In dem vorliegenden Werk "Die Religion in der Sprache der Kultur" - erschienen im Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2004 - bringt Cornelia Richter die Kulturphilosophie Schleiermachers und Cassirers ins Gespräch und versucht damit eine Brücke zwischen den aktuellen kulturtheoretischen Diskursen in Theologie und Philosophie zu schlagen.
"Denn das Ziel besteht darin zu zeigen, inwiefern durch Cassirer die kulturtheoretischen Voraussetzungen der Schleiermacher-Rezeption für die aktuelle kulturphilosophische Debatte durchsichtig gemacht werden können. So wie umgekehrt Schleiermacher den Hintergrund bildet für eine solche Rekonstruktion Cassirers, die deren kritische Aneignung nutzt für eine konsequent kulturtheoretisch fundierte Theologie. Genau darin liegen nun auch die Herausforderungen für die Theologie und (hier) in besonderer Weise für die systematische Theologie. Wird nämlich mit Cassirer die Kultur als Grundlegung von Philosophie und Theologie verstanden und umgekehrt die ambivalente Eigenständigkeit der Religion ernstgenommen, dann zeitigt dies Konsequenzen für die Gestalt der Dogmatik. Es kann dann nicht länger darum gehen, dogmatische Inhalte abstrakt zu formulieren und nach ihrer Anschlussfähigkeit für die Kultur zu suchen. Vielmehr geht es umgekehrt darum, dass die Dogmatik ihre eigene kulturelle Bedingtheit nicht nur reflektiert, sondern bereits die Ausbildung ihrer Gehalte in der Sprache der Kultur versteht ..." (op. cit., ibid., S. 3)
Cornelia Richter analysiert die systematisch-philosophichen Symmetrien und Divergenzen von Schleiermachers Dialektik und Ethik einerseits sowie Cassirers Philosophie der symbolischen Formen andererseits. Dabei zeigt sich, inwiefern beide Ansätze in historischer Sicht aus einer gemeinsamen transzendentalphilosophischen Problemkonstellation erwachsen sind.
"Eine Kulturtheorie, die ihre Fundierung aus der Beschäftigung mit Schleiermacher und Cassirer gewinnt, bewegt sich zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie. Es ist immer (auch) die elementare Struktur von Denken und Wissen und Sein, die die Gestalt der jeweiligen Kulturphilosophie bestimmt ..." (op. cit., ibid., S. 3)
Die systematische Analyse eröffnet auch den Blick auf die Ähnlichkeit der jeweiligen kulturphilosophischen Motive sowie deren Differenzen auf der Ebene der empirisch-phänomenologischen Explikation, insbesondere der Bestimmung von Ort und Funktion der Religion.
"Was ist das für ein Religionsverständnis ? Woher gewinnt es seine Impulse und gedanklichen Motive ? ..." (op. cit., ibid., S. 7)
Es zeigt sich, inwiefern es aus der Verbindung von Religion und Kultur zur Aufgabe für die Theologie wird, die Ausbildung der Dogmatik selbst kulturell zu verantworten.
"Gerade das ganz andere, zunächst Unzugängliche und inkompatibel mit der Tradition Erscheinende teilt freilich mit der theologischen Reflexion die Unausweichlichkeit des Symbolisierens als der je neu zu leistenden Verschränkung von Sinnlichem und Sinn. Insofern ist es diese von Cassirer in überzeugender Weise dargestellte Strukturanalogie, die den Bezug der theologischen Reflexion auf die Religion am Ort der Kultur erleichtern und motivieren könnte. Den immer ist es die konstitutive Verfasstheit des Menschen, Sinn zu suchen, nach Sinn zu fragen und darin bereits sinnhafte Antworten zu geben und den Sinn in der Kultur zu erschließen. Indem die theologische Reflexion sich auf die Religion in ihren vielfältigen Spielarten einlässt und die Religion am Ort der Kultur selber erschließt, stellt sie sich ein in die allgemeinen Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens ..." (op. cit., ibid., S. 291)
Der Versuch Cornelia Richters, Schleiermacher und Cassirer in einen Austausch zu bringen, hat zu vielen Fragen interessante Denkansätze geliefert, offene Fragen aufgeworfen und zukünftige Forschungsperspektiven eröffnet. In welcher Weise das Gespräch zukünftig moderiert wird, bleibt damit offen.
"Sollte es damit gelungen sein, Interesse zu wecken, Erwiderungen zu provozieren und Weiterführungen zu eröffnen, dann sei hiermit - ganz zufrieden - das Gespräch eröffnet." (op. cit., ibid., S. 297)