Rechtsgeschichte
EINLEITUNG
I. Wo anfangen?
Die Idee zu diesem Buch entstand an einem Fachbereich, wo Rechtsgeschichte jenseits der traditionellen Einteilung in Römisches und Deutsches Recht unterrichtet wird. Ist das Stoffgebiet nicht auf ein bestimmtes Herkunftsland oder auf eine bestimmte Epoche festgelegt, so stellt sich die Frage: Wo anfangen? Den Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung soll das römische Rech bilden. Wenn es dafür eine Rechtfertigung gibt, so liegt sie in der geschichtlichen Tatsache der Rezeption des römischen Rechts. Wie Goethes Faust ohne Helena kaum zu verstehen ist und Brecht nicht ohne die Bibel, setzt auch die Darstellung moderner Rechtsentwicklungen gewisse Kenntnisse der antiken Grundlagen voraus. Dies sei an zwei Beispielen erläutert.
Das erste betrifft den Einfluß des römischen Rechts auf die modernen Kodifikationen. Vom BGB hat man bekanntlich gesagt, es sei ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch (S. 319 ff.) Und auch die anderen Privatrechtsgesetzbücher Europas sind romanistische Kodifikationen. Daß das BGB deutsch, der Code Civil französisch, das Wetboek niederländisch, der Código civil spanisch oder der Codice civile italienisch spricht, spielt im Vergleich zur gemeinsamen Tradition nur eine untergeordnete Rolle. Über Gesetzgebung nimmt ein mehr als zweitausend Jahre altes Recht also noch heute Einfluß auf die Rechtsordnung. Um diese „seltsame Erscheinung" (Jhering) angemessen würdigen zu können, bedarf es zunächst einer Vorstellung von der überlegenen Methode und der verfeinerten Begriffstechnik, die römische Juristen entwickelt haben. Man muß aber auch wissen, daß Methode und Begriffstechnik einer bestimmten Verfassungsordnung entsprungen sind, deren Kern die römische Idee von Freiheit (libertas) bildet. Diese hat sich in der römischen Republik entwickelt, „die selbst noch Historikern der Moderne als Vorbild einer freiheitlichen Ordnung erschienen ist" (Bleicken). Es ist daher kein Zufall, daß die 1945 und 1989 zusammengebrochenen Systeme das römische Recht - mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen - jeweils auszuschalten suchten. In einer Zeit, in der viele die Abenteuer der großen Ideologien im 20. Jahrhundert schon für beendet halten, verdient diese Tatsache besondere Hervorhebung.
Das zweite Beispiel ist spezieller und handelt von dem Satz pacta sunt servanda. Der Satz ist im Mittelalter aufgekommen und bis heute anerkannt. Seine historischen Voraussetzungen stoßen aus Gründen, auf die noch zurückzukommen ist, derzeit wieder auf gesteigertes Interesse (S. 410). Juristische Laien pflegen anzunehmen, den Schlüssel zum Verständnis biete schon die schlichte Übersetzung: „Verträge muß man halten". Ebensowenig läßt die Erläuterung der Ursprünge im kanonischen Recht des Mittelalters (S. 144) ermessen, warum der Satz einst eine Revolution bedeutete, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind. Man muß wissen, daß das römische Vertragsrecht auf einem numerus clausus von klagbaren Vertragstypen beruht, wonach bloße pacta keine Rechtsverbindlichkeit entfalten (S. 58). Ohne Kenntnis der romanistischen Grundlagen bleibt unverständlich, warum auf Basis von pacta sunt servanda in Europa über die Jahrhunderte hinweg ein einheitliches Vertragsrecht wachsen konnte, das derzeit wieder auf dem Prüfstand steht (S. 410).
Was wir als Anfänge wahrzunehmen glauben, „sind schon ganz späte Stadien" (Jacob Burckhardt). Rom steht am Ende der Antike und die Menschheit hat bereits vor Griechenland, Israel oder Ägypten Tausende von Jahren erlebt, die von den altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften über Viehzucht und Ackerbau im Neolithikum bis zu den ersten schriftlichen Quellen reichen. Die Lehre der „Rechtsgeschichte" kann weder „vollständig" sein noch eine „objektive" Auswahl treffen. Die vorliegende Darstellung will einen ersten Zugang zum Fach und zur Welt des positiven Rechts eröffnen. Dazu gehört auch die Entdeckung, daß Vergangenheit keine Vorgeschichte der Gegenwart, sondern ein eigenständiges und zugleich fremdes Gebiet ist. Das altrömische Recht gestattet es, unter Stichworten wie „strukturelle Mündlichkeit", „Form", „Gewalt", „Rache", „Selbsthilfe" oder „Einschaltung von Dritten" Merkmale archaischer Rechtskulturen exemplarisch zu behandeln (z.B. S. 29, 33, 116, 120). Vom jüngeren römischen Recht der Klassik oder Spätantike führen dagegen viele Linien zur Moderne. Diese Linien verlaufen aber nicht auf direktem Wege, oft sind sie verschlungen oder nur schwach ausgeprägt, sie können auch ganz abbrechen oder sich verlieren, um später an unvermuteter Stelle wieder aufzutauchen.
Nachfolgend sei noch ein Überblick über die wichtigsten Stationen der Darstellung gegeben (...)
(Auszug aus der Einleitung, ebd., S.1-4)
Böhlau Verlag / UTB
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